US-Präsident Barack Obama will nicht in der Clinton-Falle enden. Der frühere demokratische Präsident Bill Clinton war mit dem Versuch einer Gesundheitsreform kläglich gescheitert. Dass er sein groß angekündigtes Projekt wegen des massiven Widerstands kassieren musste, hat ihn viel politische Glaubwürdigkeit gekostet. Damit er selbst nicht in der Falle landet, wirft Obama am seine ganze Autorität in die Waagschale. Zur besten Sendezeit wird er vor dem Kongress mit beiden Parlamentskammern reden, um für die Gesundheitsreform zu werben
Was die Streitpunkte der Reform sind, wer dagegen ist, warum diese Rede so wichtig für Obama ist und warum er, wie viele seiner Vorgänger seit rund 100 Jahren, scheitern könnte, erklären wir Ihnen in den folgenden Abschnitten.
Warum brauchen die USA eine Gesundheitsreform?
Das US-Gesundheitssystem ist das teuerste der Welt. Die Kosten liegen bei 2,5 Billionen Dollar und damit pro Kopf höher als in jedem anderen Land. Trotz der hohen Aufwendungden sind etwa 46 Millionen Menschen in den USA nicht krankenversichert.
Und die Zahl der Menschen ohne Krankenversicherung wird in den kommenden Jahren noch deutlich steigen. Der Grund: die Wirtschaftskrise. Insgesamt 10,3 Millionen Amerikaner waren im November ohne Arbeit. Das sind knapp drei Millionen oder 36 Prozent mehr als noch im Januar. Die Prognosen für das kommende Jahr sind düster. Ökonomen rechnen damit, dass die Arbeitslosenquote 2009 von derzeit 6,7 Prozent auf bis zu zehn Prozent ansteigen könnte. Im Durchschnitt verliert mit jedem Arbeitslosen mindestens auch ein Kind oder Lebensgefährte den Versicherungsschutz.
Trotz der hohen Kosten ist das amerikanische Gesundheitssystem weit davon entfernt, das beste zu sein: Dem ersten Platz bei den Kosten von Behandlung und Medikamenten steht laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein 37. Rang in der umfassenden Qualität der Versorgung und ein 72. Rang im Vergleich der Volksgesundheit gegenüber.
Das marode Gesundheitssystem lähmt auch die Wirtschaft. Mehr als 13.000 Dollar wenden Amerikas Arbeitgeber im Durchschnitt pro Jahr für die Krankenkasse eines Angestellten auf. Steuerfreiheit für diese Leistung gewährt der Staat nur, wenn die Gruppenverträge der Unternehmen jeden aufnehmen und niemanden wegen bestehender Krankheiten ausschließen. Angestellte in kleinen Betrieben, sozial Schwache, die für das staatliche Medicaid-Programm zu stark sind, fallen ganz aus dem System heraus. Der volkswirtschaftliche Schaden, den die Nichtversicherten anrichten, die nur im Notfall in die Notaufnahme der Krankenhäuser gehen, beläuft sich auf Milliarden. Diese "charity care" wird über Steuern auf die Allgemeinheit umgelegt.
Was sind die Ziele der Gesundheitsreform?
"Wir haben die Ideen, wir haben die Ressourcen und wir werden bis zum Ende der nächsten Legislaturperiode eine umfassende Krankenversicherung in diesem Land bekommen", hat Obama bereits im vergangenen Jahr versprochen. Bislang sind von der großen Gesundheitsreform nur Eckpunkte bekannt: Eine erschwingliche Krankenversicherung für alle soll es geben, die Kosten von Vorsorgeuntersuchungen sollen übernommen und 50 Milliarden Dollar in neue Technologie investiert werden, um mittelfristig die Kosten zu drücken.
Der Grund für so viel Ungewissheit: Obama wollte einen anderen Weg als seine Vorgänger gehen. Die Reform sollte nicht hinter verschlossenen Türen ausgearbeitet werden, ohne den Kongress und die Vertreter des Gesundheitssystem einzubeziehen. Er gab nur seine generellen Wünsche vor, forderte aber den Kongress auf, der solle die Gesetzesentwürfe selbst formulieren. Das führte dazu, dass der Kongress beriet, ohne sich auf eine Vorlage zu einigen. Schon Ex-Präsident Bill Clinton ist grandios an einer Gesundheitsreform gescheitert. Angeblich, weil er zu spät in der Wahlperiode losgelegt hätte, so die Ansicht der Experten. Deshalb trete Obama bereits jetzt, zu Beginn seiner Amtszeit, vor den Kongress.
Finanzieren will Obama das Ganze durch höhere Steuern für einkommensstarke Amerikaner und durch eine Art Strafzahlung für Unternehmen, die ihren Mitarbeiten keinen Krankenversicherungsschutz bieten. Dabei wird er von dem linken, in den USA als "liberal" bezeichneten Flügel seiner Partei unterstützt. Auch die Präsidentin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, nannte eine staatliche Komponente unerlässlich. Obama will die Gesundheitsreform bis zum Jahresende durch das Parlament bringen. "Jede Debatte ist gut, weil wir das richtig machen wollen. Aber jede Debatte muss zu einem Ende kommen", sagte er. "Es ist jetzt Zeit zu handeln und das hier zu schaffen."
Was will Obama mit seiner Rede bezwecken?
Kurz vor seiner Rede im Parlament hat der US-Präsident Kompromissbereitschaft signalisiert. Seine Regierung sei "offen für neue Ideen", sagte Obama in einem Interview mit dem Sender ABC am Dienstag. Er ist sichtlich bemüht, Stimmen für sein wichtigstes innenpolitisches Ziel zu gewinnen.
"Wir wollen in diesem Jahr etwas hinbekommen." Seine Rede am Mittwochabend vor den beiden Häusern des Kongresses werde zeigen, "worin ich den besten Weg sehe, um vorwärts zu kommen", betonte Obama. In seiner Rede werde er Demokraten und Republikanern deutlich machen, dass "wir in dieser Sache nicht starr und ideologisch sind". Die spannendste Frage in der derzeitigen Debatte ist, ob Obama bereit ist, angesichts massiver Kritik auf einen Kernpunkt seines Vorhabens zu verzichten. Dabei geht es um den Plan, in den USA künftig auch eine staatliche Krankenkasse zu schaffen und den zumeist gut verdienenden Privatkassen damit eine Konkurrenz gegenüberzustellen.
Die Rede dürfte auch die amerikanische Bevölkerung interessieren. Umfragen zufolge sind die mehr als 250 Millionen versicherten Amerikaner mit ihrer Versorgung zufrieden. Sie befürchten, nach einer Reform schlechter dazustehen.
Warum ist die Reform für Obama so wichtig?
Die Erneuerung des Gesundheitssystems ist das wichtigste innenpolitische Reformvorhaben des US-Präsidenten. Die Reform stößt seit Monaten auf massiven Widerstand der Republikaner, aber auch unter den Demokraten herrscht Skepsis, ob sich das milliardenschwere Vorhaben überhaupt finanzieren lässt. Die Lage ist ernst. Experten meinen, ein Scheitern könnte für Obama weitreichende Konsequenzen haben. Wenn es ihm nicht gelingt, die Debatte über die Gesundheitsreform voranzubringen, würde er an Einfluss und Respekt verlieren. Solch ein Vertrauensverlust würde es schwerer machen, auch für andere politische Programme Mehrheiten zu gewinnen. Und nach diesem Sommer muss der US-Präsident Erfolge vorzeigen können.
Denn die "politische Sommerpause" verlief alles andere als ruhig. Die Republikaner testeten wiederholt die Verwundbarkeit des Präsidenten. Rechte Parteimitglieder probten in der Sommerpause bei "Townhall Meetings", einer Art großer, öffentlicher Bürgersprechstunden der Abgeordneten in ihren Wahlkreisen, den Frontalangriff. Sie verhöhnten das Ziel einer allgemeinen Krankenversicherung als "Sozialismus", sprachen dem Präsidenten die amerikanische Staatsbürgerschaft ab und verglichen ihn mit Hitler.
Plötzlich wurde Obamas Popularität in anderem Licht betrachtet. Jeder Präsident verliert im Laufe seiner Amtszeit an Ansehen. Obamas Spitzenwerte lagen bei der Inauguration bei etwa 70 Prozent Zustimmung. Doch in einzelnen Umfragen liegt er inzwischen unter 50 Prozent. Ein fast schon erdrutschartiger Abfall im Ansehen der US-Bürger.
Wer ist gegen die Reform?
Die Reform des Gesundheitssystems ist die heilige Kuh der US-Politik. Jeder, der sich mit ihr befasst hat, stieß auf kollektiven Widerstand. Das hat sich auch unter Obama nicht geändert. So findet der von Republikanern entschieden abgelehnte Vorschlag auch innerhalb des demokratischen Lagers nicht nur Zustimmung. Der Wortführer der "Blue Dogs" genannten konservativen Demokraten im Repräsentantenhaus, Mike Ross, erklärte, er werde auf keinen Fall für eine staatliche Versicherung stimmen. Der Vorsitzende des Finanzausschusses im Senat, Max Baucus, hat ein System von nicht auf Gewinn ausgerichteten Genossenschaften vorgeschlagen.
Die harsche Kritik verwundert. Immerhin würden langfristig Krankenhäuser höhere Gewinne einfahren, Gewerkschaften und Unternehmen würden von einer umfassenderen Krankenversicherung profitieren. Allerdings kann es mit der Einigkeit schnell vorbei sein, wenn es um die Details geht. Denn ohne Frage stehen auch Streichungen an. Das gelte etwa für die Pharmakonzerne, die in Zukunft wohl weniger für ihre Medikamente berechnen dürften.
Bürgerbewegungen, gefördert vom radikalen Flügel der Republikanern, prangerten die "Obamacare" als sozialistisches Experiment an, die Ärzte, Kliniken, Versicherer ruinieren würde. Diese Kritik, gepaart mit Hetzparolen, war so medienträchtig, dass nun auch der breite Teil der Bevölkerung nach dem Nutzen der Reform fragt. Höhere Kosten, mehr Bürokratie, fürchten laut Umfragen über 60 Prozent.
Zudem gibt es bereits mehrere Versicherungsmodelle. Für 26 Prozent der Bürger ist die Krankenversicherung schon staatlich. Sie sind entweder bei Medicare (ab 65 Jahren) oder Medicaid (für sozial Schwache) erfasst. Außerdem bietet der Arbeitgeber für 53 Prozent der US-Bürger eine Gruppenversicherung für Arbeitnehmer an. Diese gilt für Alleinstehende und Familien, kommt teilweise bis zu 100 Prozent ohne Arbeitnehmeranteil aus und gilt als nicht zu versteuerndes Einkommen. Privilegien, die der US-Bürger nur sehr ungern abgeben möchte.
Wie lange würde die Umsetzung dauern?
Bis jeder Amerikaner schließlich eine Versicherung haben wird, werden Jahre vergehen. Bis zu zehn Jahre kann es dauern, und bis zu einer Billion Dollar kann es kosten, schätzt die Ökonomin Julie Barnes, Gesundheitsexpertin beim Washingtoner Thinktank "New America Foundation". Diese Summer ist so unermesslich hoch, dass sie in Zeiten der Rezession und Massenarbeitslosigkeit illusorisch scheint.
Doch nichts zu tun, wäre deutlich teurer. Jedes Jahr gingen der Wirtschaft 207 Milliarden Dollar durch kranke, nicht versicherte Arbeitskräfte verloren, lautet das Ergebnis einer Studie zur Finanzierbarkeit der Gesundheitsreform.
Zudem würden die Gesundheitskosten nach dem alten System für den durchschnittlichen US-Haushalt in den nächsten acht Jahren um 45 Prozent steigen. "Unsere Wirtschaft kann sich nicht erholen, wenn Amerikaner einen immer größeren Anteil ihres Einkommens für Arztrechnungen ausgeben", kritisiert Barnes.
Warum ist die Reform bislang gescheitert?
Die starken Vorbehalte gegen eine gemeinschaftliche Krankenversicherung hat seine Wurzeln in Amerikas Außenpolitik. Freiheit wider Sozialismus – auf die einfache Formel haben Amerikas Gegner einer staatlichen Krankenversicherung gesetzt, seit Theodor Roosevelt 1912 mit dieser Idee und seiner Progressive Party scheiterte. Harry Truman versuchte es erneut, seine Gesundheitsexperten wurden als „moskautreu“ beschimpft. John F. Kennedy erlebte den Triumph seiner Medicare nicht. Und Bill Clinton überlebte 1994 das Desaster von "Hillarycare" politisch nur knapp.
Er hatte Anfang der Neunziger versucht, das Gesundheitssystem zu reformieren. Die Leitung der health care task force übernahm damals seine Frau, die künftige Außenministerin Hillary Clinton. Doch sie scheiterte. Die Clintons hatten gute Ideen, aber sie erarbeiteten heimlich ein 1300 Seiten starkes Reformgesetz und verlangten von den Demokraten im Kongress, es durchzusetzen. Der Verlust der Mehrheit in beiden Kammern war die Folge.
Die Verantwortung für die Reform liegt diesmal bei Tom Daschle, dem ehemaligen demokratischen Mehrheitsführer im Senat und amtierenden Gesundheitsminister. In seiner ersten großen Rede als künftiger Minister rief Daschle eine landesweite Kampagne ins Leben, bei der sich die Bürger zusammentun und gemeinsam Vorschläge zur Verbesserung auf Obamas Homepage change.gov einreichen sollten. Wie sehr die Bürger die Reform bewegt, wurde bei einem neuerlichen Zusammentreffen von Reformgegnern und Befürwortern deutlich. Im Eifer des Gefechts biss ein Reformbefürworter einem Gegner den kleinen Finger ab. Bleibt nur zu hoffen, dass der Fingerlose auch gut versichert war.