Am frühen Morgen des 8. November 2000, es war 2.16 Uhr, verkündete ein Nachrichtensprecher des konservativen US-Fernsehsenders Fox, dass George W. Bush im Bundesstaat Florida die Mehrheit errungen habe. Florida war der letzte Bundesstaat, dessen Stimmen ausgezählt wurden, und es war der wichtigste in dieser spannenden Wahlnacht. Denn Florida stellt 27 Wahlmänner für die Wahl des US-Präsidenten – und sicherte damit bei der letzten Wahl die Mehrheit. Wenige Minuten später meldeten auch die vier anderen großen Fernsehstationen Bushs Sieg. Zu früh.
Die Wahl in Florida sei noch nicht gelaufen, sagten die Berater des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore. Es müssten noch Hunderttausende Stimmen ausgezählt werden. Außerdem habe eine Computer-Panne dazu geführt, dass 16.000 Stimmen für Gore als "negativ" gezählt wurden. So begann an diesem frühen Novembermorgen vor vier Jahren der Skandal um die Präsidentenwahl.
In den folgenden Wochen stellte sich heraus, dass es im Mutterland der Demokratie zugegangen sein muss wie in einer Bananenrepublik: Verlorene Stimmzettel, Wähler, die nicht wählen durften, weil sie angeblich nicht registriert waren. Zu viele Stimmen in einem Wahlbezirk, zu wenige in einem anderen. Unschuldige, die auf den so genannten "Vorbestraften-Listen" standen und deswegen nicht wählen durften.
537 Stimmen waren entscheidend
Dazu die Probleme mit offenbar vorsintflutlicher Wahltechnik: vor allem die "punch-cards" sorgten für Ärger, eine Art Stechkarte, in die der Wähler ein Loch stanzt. Schließlich entschied das neunköpfige Verfassungsgericht mit einer Stimme Mehrheit zu Gunsten von Bush. So siegte der Mann, der landesweit weniger Stimmen als sein Konkurrent erhalten hatte, mit einer hauchdünnen Mehrheit von 537 Stimmen in Florida.
Und heute, vier Jahre danach? Heute befürchten Experten ein Debakel, das sogar noch größer werden könnte als damals in Florida – und zwar landesweit. Schon häufen sich Betrugsvorwürfe, technische Pannen und Gerichtsprozesse. Sogar das FBI ermittelt bereits, schon stehen erste Gerichtsprozesse an. Und beide Parteien werfen dem jeweiligen Gegner Manipulation und Betrug vor.
Dabei sollte doch alles besser werden: Nach dem Desaster vor vier Jahren wurde flugs eine Kommission gegründet. Unter Leitung der beiden ehemaligen Präsidenten Gerald Ford und Jimmy Carter erarbeitete sie viele kluge Vorschläge, die 2002 in das "Hilf-Amerika-wählen"-Gesetz einflossen. 3,9 Milliarden Dollar wurden bereitgestellt, um die hoffnungslos veralteten Wahlmaschinen des Landes zu modernisieren und die unterschiedlichen Wahlverfahren möglichst zu vereinheitlichen.
Außerdem müssen endlich Datenbanken zur Wähler-Registrierung angelegt werden – in den meisten Bundesstaaten aber erst ab 2006. Doch bislang wurden erst 670 Millionen Dollar bereitgestellt. "Leider wurde ein großer Teil des Gesetzes bislang nicht verwirklicht", sagt Jimmy Carter, "entweder wegen finanzieller Probleme oder aufgrund politischer Streitigkeiten."
"Willkürliches, betrugsanfälliges Wahlsystem"
"Zählt Ihre Stimme wirklich?" titelt das US-Magazin Newsweek über den Vertrauensverlust der Wähler. " So kann eine Demokratie nicht funktionieren" mahnt der britische "Economist". "Man stiehlt uns die Wahlen", meint gar der Buchautor John Fund. "Zwei Prozent der Stimmen wurden bei den letzten Wahlen nicht gezählt, die meisten wegen veralteter Wahltechniken. Zehn Prozent der Amerikaner glauben heute, ihre Stimme werde nicht korrekt gezählt. Und das wird sich solange nicht ändern, bis wir endlich verstehen, dass wir ein willkürliches, betrugsanfälliges Wahlsystem haben, das eher einem Dritte-Welt-Land ähnelt als der führenden Demokratie der Welt."
Schon jetzt erscheint diese Präsidentenwahl so problematisch, dass die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE 85 Wahlbeobachter entsendet - angeführt von Rita Süssmuth, der ehemaligen Bundestagspräsidentin. Die Wahlbeobachter fürchten, das Wahlrecht werde in den USA "nicht gleich angewendet oder beschützt".
So darf in einigen Bundesstaaten bereits seit Wochen gewählt werden. In Florida öffneten die Wahllokale in dieser Woche. Und gleich am ersten Tag fielen in Fort Lauderdale wegen eines technischen Fehlers 18 Computer aus und legten 14 Wahllokale lahm. Viele Wähler, zumeist Schwarze und Senioren, wollten nicht stundenlang warten und gaben auf. Aus anderen Bundessaaten melden aufgeregte Aktivisten beider Parteien angeblich vernichtete oder angeblich gefälschte Wähler-Registrierungen, dazu jede Menge angeblicher Einschüchterungsversuche.
Jeder der 50 Bundesstaaten hat seine eigenen Wahlvorschriften. In einigen Bundesstaaten - wie Florida - werden immer noch Vorbestraften-Listen geführt. In sieben der hart umkämpften "Swing Staaten" ist es Parteimitgliedern erlaubt, bereits ausgefüllte Briefwahl-Unterlagen einzusammeln. In einigen Bundesstaaten dürfen Partei-Aktivisten den Wählern sogar beim Dazu kommen völlig unterschiedliche Wahltechniken.
Wahlcomputer als "schwarze Box"
Uralte Hebelmaschinen, so genannte Lever, gehören dazu ebenso wie moderne Scanner, die Wahlzettel in den Computer übertragen. 32 Millionen Wähler müssen sich auch in diesem Jahr noch mit den berüchtigten "Stanzkarten" herumschlagen. Und knapp 30 Prozent aller Wahlberechtigten – 50 Millionen Bürger - sollen in diesem Jahr per Computer wählen. Sollen an einem Bildschirm den Namen ihres Kandidaten antippen, ähnlich wie bei der Bedienung eines Geldautomaten. So sollen landesweit ebenso schnell wie zuverlässig Ergebnisse geliefert werden können, ohne lästigen, störanfälligen Papierausdruck. Genau diese Computer aber könnten sich als die "schwarze Box" erweisen, in der Stimmen einfach verschwinden.
"Selbst Spielautomaten sind sicherer als Wahlcomputer"
Vor gut einem Jahr saß Linda Schade an einem milden Spätsommerabend mit Freunden im Garten. Damals hörte die Umweltaktivistin aus einem Vorort von Washington, dass die brandneuen Wahlcomputer ihres Bundesstaates Maryland von Experten überprüft worden waren. Man hatte sie als "unsicher" eingestuft, vor allem wegen technischer Pannen. "Wie sollen wir wissen, ob unsere Stimme wirklich korrekt gezählt wird?" fragte sich Linda Schade, gründete die "Initiative für überprüfbares Wählen" und zog vor Gericht.
Sie würde für ein Stück Papier kämpfen – für ein Stück Demokratie. Ihre einfache Forderung: für jede abgegebene Computer-Stimme soll ein Kontrollausdruck auf Papier erstellt werden. Damit könnten im Zweifel Stimmen per Hand nachgezählt werden. Ihre Klage wurde abgewiesen – die neue Technik sei einwandfrei, hieß es. "Dabei wurden die Wahlcomputer dreimal von verschiedenen Fachleuten untersucht. Alle hatten Sicherheitsbedenken. Es ist heute sicherer, ein Buch im Internet zu kaufen als den Präsidenten der USA zu wählen", sagt Linda Schade, und dabei ist ihr gar nicht nach Lachen zumute.
Elektronisches Nirwana
Denn rasch stellte sich heraus: Hacker können die Computer manipulieren, Software streikt, Stimmen gehen im elektronischen Nirwana verloren. "Selbst Spielautomaten in Las Vegas genügen höheren Sicherheitsstandards als diese Computer", meint der Informatik-Professor David Dill von der renommierten Stanford-Universität. "Sie haben hunderte Stellen, an denen sie verwundbar sind." Dills Sorge gilt dabei weniger Wahlbetrügern oder Hackern als der Frage, ob ein knappes Wahlergebnis verlässlich überprüft werden könnte. "Im Moment können wir noch nicht einmal beantworten, ob die Maschinen richtig gezählt haben. Ein knappes Wahlergebnis wäre ein Albtraum für Amerika."
Schon jetzt häufen sich die Beschwerden. So erreichte bei einer Nachwahl zum Senat in diesem Frühjahr in Florida die Siegerin laut Computer eine Mehrheit von zwölf Stimmen. Eigentlich hätte daraufhin eine Handauszählung der Stimmen erfolgen müssen. Das aber war nicht möglich, die Wahlmaschinen speichern die Stimmen elektronisch, Kontrollausdrucke sind in Florida nicht vorgesehen. Das Nachzählen per Hand ist in Florida sogar per Gesetz verboten.
Fehler, Pannen, Zweifelhaftes
Bei einem Test in einem anderen Wahlkreis Floridas brach gleich das gesamte Computersystem zusammen – offenbar aufgrund von Elektrizitätsproblemen nach den Hurrikans der vergangenen Wochen. In Indiana kam es zu wundersamer Stimmenvermehrung, als 5352 Wähler ingesamt 144.000 Stimmen abgaben. Im Bundesstaat Virginia wiederum schaffte es die Software, Stimmen abzuziehen anstatt zu addieren. Einzelfälle? Auf 51 eng beschriebenen Seiten listet die Bürgerbewegung "Überprüftes Wählen" (www.verifiedvoting.org) Fehler, Pannen, Zweifelhaftes auf.
Entscheidungsschlacht mit einem Heer von Anwälten
Die Präsidentschaftskandidaten in den USA sind stark abhängig von Parteispenden. Manchem Gönner wird unterstellt, bei der Förderung einen Schritt weiter zu gehen. So geriet der Wahlcomputer-Hersteller Diebold aus Ohio unter Verdacht der Wahlmanipulation. Er produziert die meisten der Computer, die in diesem Jahr zur Wahl des US-Präsidneten eingesetzt werden. Firmenchef Walden O´Dell, überzeugter Bush-Anhänger und Großspender der Republikanischen Partei, hatte im vergangenen Sommer versprochen, er werde dem Präsidenten die Mehrheit im hart umkämpften Bundesstaat Ohio verschaffen. Denn noch nie wurde ist ein Kandidat Präsident, der nicht die Mehrheit in Ohio errang.
Während sich am 2. November Millionen Wähler fragen werden, ob der Computer ihre Stimme auch korrekt zählt, werden Hunderttausende nur "vorläufig" wählen. Mit der so genannten "vorläufigen Wahl" soll sicher gestelllt werden, das jeder Wahlberechtigte auch wirklich wählen kann: vor vier Jahren durften viele offiziell registrierte Wähler ihre Stimme nicht abgeben, weil ihr Name auf den Wahllisten nicht auftauchte – oft Bewohner ärmerer Viertel, traditionell eher demokratische Wähler.
In diesem Jahr dürfen sie einen vorläufigen Stimmzettel ausfüllen, der nach der Wahl ausgezählt wird. So wie etwa Claude Hawkins,24, aus Kansas City, einer der zahlreichen Neuwähler in diesem Jahr. Claude füllte den Antrag auf Registrierung gleich dreimal aus - er wollte sicher sein, dass seine Stimme nicht verloren ginge. Doch in keinem Wahllokal seiner Stadt war sein Name registriert. Drei Tage suchte er nach seinem Namen, schließlich gab man ihm einen "vorläufigen" Wahlzettel: Sollte sich herausstellen, dass er wirklich ein registrierter Wähler sei, hieß es, würde seine Stimme später auch gezählt.
Unterschiedliche Vorschriften
Doch niemand weiß genau, ob Stimmen wie die von Claude Hawkins auch gültig sind – denn überall gelten unterschiedliche Vorschriften. So wurden bei den Präsidentschaftsvorwahlen in Chicago im März zwar 5914 vorläufige Stimmen abgegeben, doch nur 416 davon schließlich für gültig erklärt.
Technische Pannen, Computerprobleme, vorläufige Stimmen – die beiden Parteien rüsten sich für eine beispiellose juristische Schlacht nach der Wahl. Allein im hart umkämpften "Swing Staat" Florida wurden insgesamt 4000 Rechtsanwälte für Bush und Kerry engagiert. Beide Parteien sind entschlossen, diese Wahl zu gewinnen, beinahe um jeden Preis. Allein die Demokraten wollen bis zu 25.000 freiwillige Juristen aufbieten, die landesweit als Experten bereitstehen und jederzeit Klage einreichen können. Denn die oft in letzter Minute verkündeten Änderungen im Wahlverfahren benachteiligen vor allem sozial Schwächere – und die gehören eher zu den demokratischen Wählern. Dazu kommen fünf demokratische "SWAT-Teams", benannt nach der Sondereinheit der US-Polizei, mit eigener Flugzeugflotte: hochspezialisierten Rechtsanwälten, die jederzeit überall im Land einsetzbar sind.
"Unsere Demokratie muss wieder gesund werden"
Auch Linda Schade wird am Wahltag mit den Aktivisten ihrer "Bewegung für überprüfbares Wählen" an 200 Wahllokalen ihres Bundesstaates stehen. Dort wollen sie als unabhängige Beobachter alle Unregelmäßigkeiten notieren. Dann wird Linda Schade viel telefonieren, sie wird die Presse informieren und die Rechtsanwälte. "Unsere Demokratie muss wieder gesund werden", sagt Linda Schade. "War es nicht einmal so, dass jede Stimme zählte?"