Eigentlich hätten die Akten noch zehn Jahre auf ihre Veröffentlichung warten müssen. Erst nach 30 Jahren werden Regierungsunterlagen der britischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch die Historiker in den imposanten Hallen des Auswärtigen Amtes, direkt neben der Downing Street gelegen, wissen natürlich um die explosiven Inhalte der Gesprächsnotizen, Botschafter-Depeschen und Hintergrund-Berichte, die in der Zeit vor dem Mauerfall Anfang 1989 bis zur Wiedervereinigung im Oktober 1990 in ihrem Haus die Runde machten.
In Rücksprache mit dem Regierungskabinett und den eigenen Vorgesetzten erreichten sie, dass die Unterlagen schon heute als Sonderband der Serie "Dokumente der britischen Übersee-Politik" veröffentlicht wurden. Eine Rolle bei ihren Bemühungen dürfte auch gespielt haben, dass die Beamten des Auswärtigen Amtes in der historischen Rückschau sehr viel besser wegkommen als ihre Regierungschefin Margaret Thatcher.
Zermürbungskrieg mit Fingerspitzengefühl
Deren Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung ist bekannt. Helmut Kohl schien ihr noch in seinen Memoiren nachzutragen, wie deutlich und unverblümt sie sich ihm entgegengestellt hatte. Er nannte sie "eiskalt", nach seinen Erinnerungen stampfte sie mit den Füßen auf, als er ihr - neun Tage nach dem Fall der Mauer - eröffnete, dass niemand das Volk aufhalten könne, sein eigenes Schicksal zu bestimmen.
Es war nicht nur Helmut Kohl, der an Margaret Thatchers undiplomatischem Auftreten verzweifelte. Die nun veröffentlichten Dokumente zeigen, dass hochgestellte und altgediente Auslands- und Politikexperten die Lage ganz anders einschätzten als die Premierministern, die wohl immer noch geleitet war von ihren persönlichen Erfahrungen im Krieg. Schon vor dem Mauerfall begann ein lang gezogener und von Seiten der Beamten mit Fingerspitzengefühl geführter Zermürbungskrieg gegen Thatchers Vorurteile gegen die Deutschen.
"Der Moment der Deutschen ist gekommen"
So empfahl Charles Powell, Thatchers Berater für Außenpolitik, seiner Chefin im Januar 1990: "Wir können keine Blaupause zeichnen, um die Wiedervereinigung zu stoppen. Die Premierministerin akzeptierte dies, betonte aber, dass wir in unseren Planungen eben auch nicht davon ausgehen sollten, dass die Wiedervereinigung unvermeidlich sei und alle Arbeit allein darauf ausrichten." Einen Monat später schrieb Powell an Thatcher: "Der Moment der Deutschen ist gekommen: Sie werden ihr Schicksal in die Hand nehmen."
Die Dokumente zeigen auch, dass der französische Präsident Francois Mitterrand hinter den Kulissen starke Bedenken gegen die neue deutsche Stärke äußerte. Er warnte Thatcher in privaten Gesprächen, dass die Aussicht auf Wiedervereinigung die Deutschen wieder in die "schlechten" Menschen verwandele, als die man sie kennen gelernt habe. Er verglich die Situation Europas mit dem Jahr vor dem ersten Weltkrieg. Mitterrand wird in den Aufzeichnungen des britischen Auswärtigen Amtes auch mit der Aussage zitiert, dass Kohl kein Verständnis für die Sensibilitäten anderer Nationen habe und das Nationalgefühl der Deutschen in seiner Kampagne für die Wiedervereinigung ausnutze. Mitterrand scheint die britische Premierministerin mit diesen präzise gesetzten Sottisen dazu zu verleiten, sich weiter öffentlich gegen die Wiedervereinigung zu verwahren. Der britische Botschafter in Bonn in dieser Zeit, Sir Christopher Mallaby, beklagte in seinen Depeschen den schlechten Ruf, den sich Großbritannien durch diese Feindseligkeiten eingehandelt habe: "Unser Ansehen ist hier so tief gesunken wie seit Jahren nicht mehr."
"Genscher ist viel zu klug"
Der britische Außenminister Douglas Hurd ließ sich, anders als sein Botschafter, von den Ausbrüchen seiner Regierungschefin nicht aus der Ruhe bringen. Die Akten zeigen, dass seine Gespräche mit dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher von gegenseitigem Einvernehmen geprägt waren. Hurd schrieb in einer Depesche an Thatcher: "Genscher ist viel zu klug, als dass er den Unmut teilen würde, den Kohl und die deutsche Presse angesichts unserer Äußerungen zeigen. Tatsächlich dankt er mir ständig für unser Verständnis."
Spätestens im Frühsommer des Jahres 1990 war die Zermürbungs-Taktik der Beamten im Auswärtigen Amt erfolgreich: Thatcher gab ihren Widerstand zum größten Teil auf. Sie betonte nun, dass der Prozess der Vereinigung so gut und glatt wie möglich über die Bühne gebracht werden sollte, man solle nichts unnötig beschleunigen.
Entgegen des historischen Eindruckes, auch das betonen die Historiker, hatten die Briten einen großen Anteil an den erfolgreichen Verhandlungen der Zwei-plus-Vier-Konferenzen, bei denen die Verträge für die Wiedervereinigung im Oktober 1990 aufgesetzt wurden - unter anderem auch deswegen, weil die britische Delegation als einzige im Besitz eines funktionierenden Laptop-Computers war. Jedes Schriftstück während der Verhandlungen wurde auf dieser Maschine getippt. Und dies wiederum war eine sehr praktische Umsetzung der Empfehlung, die Deutschland-Experten der Premierministerin auf einem extra einberufenen Seminar auf dem Landsitz Chequers im März 1990 gaben: "Wir sollten nett zu den Deutschen sein."