Drogenbeauftragter Burkhard Blienert "Bei Cannabis ist das Strafrecht kein Instrument, das hilft"

Der Drogenbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert
Der Drogenbeauftragte der Bundesregierung Burkhard Blienert
© Thomas Ecke / BMG
Seit Januar ist Burkhard Blienert Beauftragter für Drogen- und Suchtfragen der Bundesregierung. Warum die Cannabis-Legalisierung und Gesundheitsschutz kein Widerspruch sind und warum Alkohol in Deutschland teurer werden muss, erklärt er im stern-Interview.

Seit Mitte Januar ist der SPD-Politiker Burkhard Blienert der Beauftragte für Sucht- und Drogenfragen der Bundesregierung. Ein kompliziertes Amt – seine Vorgängerinnen Daniela Ludwig und Marlene Mortler von der CSU standen insbesondere bei jungen Leuten in der Kritik: zu konservativ, zu festgefahren – insbesondere in der Frage nach der Legalisierung von Cannabis. Mit Blienert soll nun ein frischer Wind in die Drogenpolitik der Bundesrepublik einziehen.

Der 55-Jährige gilt als Vorreiter für die Freigabe von Cannabis, ist anders als seine Vorgängerinnen seit Jahren mit den Themen Sucht und Drogen vertraut. Im stern-Interview erklärt er, warum Alkohol in Deutschland zu günstig ist, warum die Cannabis-Legalisierung so lange auf sich warten lässt und wieso er den neuen Glücksspielstaatsvertrag kritisch sieht.

Herr Blienert, Sie sind seit Mitte Januar der Beauftragte für Drogen- und Suchtfragen der Bundesregierung. Wo sehen Sie derzeit die größten Baustellen in Deutschlands Drogenpolitik? 

Wir haben im Koalitionsvertrag ganz konkrete Sachen vereinbart. Was in der Öffentlichkeit eine große Rolle gespielt hat, ist die Frage der kontrollierten Abgabe von Cannabis. Das ist natürlich eines der zentralen Projekte dieser Regierung. 

Zudem liegt mir am Herzen, dass wir uns um die Frage des Gesundheitsschutzes und der Gesundheitskompetenz im Allgemeinen kümmern und lernen, mit Fragen von Drogen und Sucht besser umzugehen.

Wir brauchen als dritten Punkt einen starken Blick auf Prävention. Das Wesentliche, worauf es dann noch ankommt, ist ein bedarfsgerechter Ausbau der Beratungsangebote. Ich denke, dass dies drei Aspekte sind, wo deutlich wird, wohin die Reise in den nächsten vier Jahren gehen wird. 

Sie sind angetreten mit dem Versprechen, eine "fortschrittliche Drogenpolitik" zu machen. Was bedeutet das für Sie? 

Das ist ganz klar die Erkenntnis, dass im Bereich Cannabis das Strafrecht kein Instrument ist, das hilft. So erreichen wir die Konsumentinnen und Konsumenten nicht.  Deshalb brauchen wir darauf einen anderen gesellschaftlichen Blick, wie wir damit umgehen.

Aufklärung ohne Strafrecht – verharmlosen Sie damit nicht den Drogenkonsum?

Ich glaube, dass es die Aufgabe der Gesellschaft ist, den Menschen zu schützen. Beim Thema Cannabis sind wir damit im Koalitionsvertrag ganz konkret. Es geht darum, nicht zuzusehen, dass Menschen über einen Schwarzmarkt gestreckte und gesundheitsgefährdende Produkte erlangen, sondern Menschen stark zu machen und für sie einen geregelten Zugang zu sicheren Produkte zu schaffen. 

Mit Ihren Ansichten wirken Sie deutlich progressiver als Ihre beiden Vorgängerinnen von der CSU – die standen in ihrem Amt sehr in der Kritik. Ich erinnere an die Aussage von Daniela Ludwig, Cannabis sei "kein Brokkoli". Auch Rezo hatte in seinem Video "Zerstörung der CDU" sehr deutliche Kritik an Marlene Mortler geübt. Was ist Ihr Plan, gerade junge Leute mit diesem Amt des Beauftragten für Drogen- und Suchtfragen wieder zu versöhnen?

Mir ist es ganz wichtig, einen rationalen Umgang im Bereich von Drogen und Sucht zu bekommen. Deshalb ist der Dialog mit Wissenschaft, mit den Verbänden, mit der Öffentlichkeit, ganz wichtig. Das ist der eine Aspekt. Ich denke, das ist wesentlich als Grundlage, um eine fortschrittliche Drogenpolitik zu definieren und zu gestalten.

Der zweite Punkt ist, dass wir früh damit anfangen – bei Kindern und Jugendlichen. Dort werden die Grundlagen gelegt und das ist ein großer Komplex – nicht nur bei Drogen- und Suchtfragen, sondern bei Gesundheitskompetenz insgesamt. Da, wo die Kinder und Jugendlichen sind: in Schulen, in der Freizeit in Einrichtungen, in Verbänden und Vereinen, da wo soziales Leben gelebt wird, müssen wir sie erreichen. Gleichzeitig aber natürlich im digitalen Raum. Deshalb versuchen wir, auch genau da unsere Botschaften zu platzieren. Mir geht es da nicht um Verbote und Stigmatisierung, sondern um Reflexion, das Bewusstsein, wie kann ich gesund und nach vorne hin orientiert leben?

Auf der einen Seite wirken Sie sehr progressiv, zum Beispiel bezogen auf die Cannabis-Legalisierung. Auf der anderen Seite fordern Sie ein Alkoholverkaufsverbot für Minderjährige und Werbeverbote für Tabak und Alkohol. Sind Sie in Gefahr, vom Drogenbeauftragten zum Verbotsbeauftragten der Bundesregierung zu werden? 

Nein, überhaupt nicht. Ich werde, wenn dann zum Beauftragten für Fakten und Wissen. Es sagen uns ja die wissenschaftlichen Studien, dass der Genuss von Alkohol bei Kindern und Jugendlichen als Zellgift sehr gefährlich ist. Das sind die medizinischen Erkenntnisse, die wir an der Stelle haben und darauf beziehe ich mich. Deshalb ist die Argumentation ganz klar wissenschaftsorientiert und rational.

Nur so erreichen wir die Menschen für Präventionsmaßnahmen, für Gespräche, sodass es auch insgesamt einen rationaleren und keinen von Ideologie geprägten Diskurs über Drogen und Sucht in der Gesellschaft gibt. 

Ist es noch zeitgemäß, dass ein junger Mann vor ein paar Wochen in Bayern Angst vor Strafverfolgung haben musste, weil er 0,2 Gramm Cannabis dabei hatte, während man gegenüber im Supermarkt für 1,50 Euro anderthalb Liter Weißwein aus dem Tetrapack kaufen kann?

Es wird dem menschlichen Verhalten nicht gerecht, wenn wir das Eine gegen das Andere ausspielen. Was wir erreichen müssen, ist eine Eindeutigkeit und Klarheit darüber, dass missbräuchlicher Konsum von vielen Stoffen gesundheitsgefährdend ist. Deshalb: Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bitte schaut hin, was Ihr konsumiert, in welchem Umfang Ihr konsumiert und aus welchen Gründen. Diese Selbstreflexion gehört dazu, um das ganzheitliche Bild in den Blick zu nehmen. Das trägt dazu bei, einen stabilen Umgang zu lernen. Damit ist keine Verharmlosung verbunden, sondern Verantwortung. 

Zurück zum Alkohol.

Wir brauchen da die Restriktionen, weil wir beim Alkohol im Moment ein so breit gefächertes Angebot haben, so niedrigschwellig, dass es uns im europäischen Vergleich in die Spitzengruppe, was Alkoholkonsum betrifft, katapultiert. Das ist etwas, wo wir sagen müssen, wir brauchen einen anderen Ansatz.

Alkohol ist definitiv ein gesundheitsschädigender Stoff, mit einem hohen volkswirtschaftlichen Schaden und Belastungen für das soziale Umfeld, das Arbeitsumfeld und für das Gesundheitswesen. Deshalb bin ich froh drüber, dass der Koalitionsvertrag uns an der Stelle klar den Auftrag gibt, Sponsoring und Marketing zu begrenzen.

Soll also heißen, zukünftig lieber unregelmäßig einen sauberen Joint rauchen als regelmäßig ein Bier trinken? 

Letztendlich ist es nicht meine Aufgabe, vorzuschreiben, wie andere Menschen zu leben haben, sondern dass ich die Rahmenbedingungen setze und in das Gespräch mit möglichst vielen Menschen komme. Darüber können wir mehr erreichen als über Verbote.

Ist es nicht ein Widerspruch, dass Sie auf der einen Seite sagen, Sie sind gegen Verbote und auf der anderen Seite wollen Sie den Alkoholverkauf für 16- und 17-Jährige verbieten? 

Aus medizinischen Gründen ist es sinnvoll, auch über Altersgrenzen zu reden. Das begleitende Trinken ist für mich keine Präventionsmaßnahme, und hilft nicht, mit Kindern und Jugendlichen über Alkohol vernünftig ins Gespräch zu kommen. Das sagen letztendlich auch die Statistiken. Und neben dem Jugendschutz müssen wir darüber reden, ob es im Vergleich zum europäischen Kontext noch zeitgemäß ist, wie leicht verfügbar Alkohol in Deutschland nach wie vor ist. Alkohol ist ein sehr billiges Produkt und Gesundheitsschutz fängt auch häufig über eine Preisbildung an. 

Ist es nicht trotzdem paradox, dass Sie versuchen, zukünftig für Alkohol genau die gleiche Taktik zu fahren wie es Ihre Vorgänger für Cannabis getan haben, sprich, dass über Verbote eine Prävention erreicht werden soll?

Mein Signal an Kinder und Jugendliche ist, dass der Genuss von Drogen gesundheitsgefährdend ist. Deshalb kann und will ich ihn an der Stelle nicht erlauben. Mein Signal an Erwachsene ist: Der Staat und die Gesellschaft haben die Aufgabe, euch zu schützen. Was wir heute akzeptieren auf dem Schwarzmarkt, ist der Zugang zu kriminellen Strukturen, zu gestreckten Mitteln, zu gesundheitsgefährdenden Produkten und wir schauen zu, wie da Milliarden umgesetzt werden. Was hinterher nicht unbedingt als Gewinn in den sozialen Bereich, sondern in ganz andere Kanäle fließt. Es geht um den Gesundheitsschutz und um gesellschaftlichen Schutz. Das ist nicht paradox, sondern sehr stringent und deutlich orientiert. 

Was ist der neueste Stand bezüglich der Cannabis-Legalisierung?

Darauf sind ganz viele gespannt. 

Genau deswegen frage ich. 

Da werde ich im Moment alle enttäuschen müssen. Wir sind in den ersten Phasen, wo wir die Strukturen für einen Prozess debattieren und diskutieren. Wir brauchen ein Gesetz, das Bestand hat. Der Weg dahin ist kein Kurzstreckenlauf. Das ist ein komplexes und kompliziertes Vorhaben, an dem viele Ministerien beteiligt sind. Und ich möchte, dass wir die Öffentlichkeit, die Verbände und Wissenschaft beteiligen. Ziel ist die Legalisierung in dieser Legislaturperiode. Das werden wir schaffen.

Warum dauert das so lange? Eigentlich waren sich die Koalitionsparteien doch einig. 

Das ist wirklich keine Kurzerzählung, sondern ein Roman, den wir gerade schreiben und er braucht gute Vorbereitung, Recherche, eine gute Struktur, sodass hinterher das Ende eben auch gut wird. 

Wie soll die Freigabe denn aussehen? Sie haben schon gesagt, ein Prinzip mit Coffee Shops wie in den Niederlanden wird es nicht geben. Würde das über Apotheken laufen oder wie stellen Sie sich das vor? 

Das sind Detailfragen, die werden wir im Zuge des ganzen Prozesses debattieren. Diese wenigen Worte aus dem Koalitionsvertrag haben es tatsächlich in sich: "Die kontrollierte Abgabe an Erwachsene in lizenzierten Fachgeschäften". Da steht jedes Wort für ganz viel. Deshalb ist die Frage nicht nur, wo verkauft wird, sondern auch: wie kriegen wir den Gesundheitsschutz damit vereinbart? Wie schaffen wir es, sichere Produkte in lizenzierten Fachgeschäften anzubieten? Wie sehen die Lizenzen aus? Welche Kompetenzen brauchen die Verkäufer? Ganz viele Fragen, wo wir auch die kommunale Ebene mit in den Blick nehmen müssen, genauso wie die gesundheitspolitischen Aspekte.

Sie haben gesagt, Alkohol ist in Deutschland deutlich zu billig. Wieviel müsste man dann für ein Gramm legales Cannabis inklusive Steuern zahlen? 

Wir haben Verschiedenes, was die Steuereinnahmen betrifft, schon durchgerechnet. Es ist eigentlich ein ganz nachvollziehbarer Dreisatz: Wir wissen, was der Schwarzmarktpreis ist. Daraus ergibt sich eine Orientierung, wie wir mit Steuern hantieren können, sodass das sichere Produkt in den Verkaufsstellen auch noch attraktiv ist. Keiner wird erwarten können, dass danach der Schwarzmarkt sofort ausgetrocknet ist. Aber die Wirkung muss sein, deutlich und konsequent den Bereich, der schwarz angeboten wird, zurückzudrängen und zu minimieren, wenn es geht, auf Dauer abzuschaffen. 

Das heißt maximal so teuer wie im Moment oder weniger.

Ich glaube, da werden uns manche Ökonomen noch manche Berechnungen mitgeben, wie wir das beurteilen können. Das ist aber etwas, worüber ich mir im Moment wenig Gedanken mache.

Wie stehen Sie zur Entkriminalisierung von harten Drogen? Portugal ist in diesem Bereich ja Vorreiter – bisher mit Erfolg.

Wir haben in den verschiedensten Ländern eine Neustrukturierung der Drogenpolitik. Die meisten beziehen sich entweder auf Tabak und Alkohol oder eben auf Cannabis. Ich bin froh, dass wir im Koalitionsvertrag jetzt konkrete Maßnahmen geplant haben, die werden uns in dieser Legislaturperiode zeitlich genug beschäftigen.

Nicht erst, aber besonders seit der Corona-Pandemie ist das Thema Spielsucht in den Blick vieler Hilfsstellen gerückt. Derzeit gelten mindestens 430.000 Menschen in Deutschland als spielsüchtig, die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch deutlich höher. Dennoch ist ein neuer Glücksspielstaatsvertrag in Kraft getreten, der insbesondere Online-Casinos legalisiert hat. Wie sehen Sie diese Lage?

Das ist tatsächlich im Wesentlichen Ländersache. 430.000 pathologisch Glücksspielsüchtige sind eine große Anzahl. Wir wissen, wie problematisch das häufig für Betroffene ist. Das ist etwas, wo man nicht die Augen verschließen kann. Wir haben jetzt diese Dynamik durch Online-Casinos und Sportwetten, wo ich in vielen Fällen über die Regulierung nicht glücklich bin, weil da wirklich nicht sehr stringent vorgegangen worden ist. Die Betroffenen brauchen an dieser Stelle tatsächlich einen öffentlichen Anwalt ihrer Interessen, sodass wir auch in dem Bereich mehr Gesundheitsschutz hineinbekommen. Das ist erforderlich, angesichts der Zahlen und auch der Umsätze, die dort erzielt werden, die ja wirklich auf Kosten der Betroffenen gehen, die ein pathologisches Verhalten haben. 

Der Vertrag hätte also strenger ausfallen müssen?

Wir haben da viel in einem grauen oder schwarzen Bereich – ohne ernsthafte Kontrollen. Das ist etwas, wo wir uns intensiver mit beschäftigen sollten und die Länder nachbessern müssen.

Zu dem neuen Glücksspielstaatsvertrag kamen noch eine Reihe an neuen Spielhallengesetzen der Länder. Häufig mussten deshalb Spielotheken schließen, weil sie mindestens 500 Meter voneinander entfernt sein müssen. Sehen Sie da nicht die Gefahr, dass noch mehr Leute in die Online-Casinos abwandern, wo dann gar keine Kontrolle mehr stattfindet, weil sie zuhause sind, isoliert und für sich spielen können? 

Das sind ja zwei Sachen, die vielleicht verquickt sind, die man aber trennen muss. Die Verfügbarkeit und die Öffentlichkeit von Spielhallen, die stationär betrieben werden, das muss man in den Blick nehmen, ja. Das Zweite ist die Regulierung im Online-Bereich. Im Online-Bereich ist die Dynamik so unwahrscheinlich groß, und da sind viele Fragen, die dort auf uns zukommen und die wir zusammen mit den Ländern beantworten müssen.

Herr Blienert, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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