Manchmal, im Radio, läuft ja noch der olle Grönemeyer. Und weil die Zeiten gerade mal wieder besinnlicher werden wird dieser Tage besonders gern der Song mit der nachdenklichen Textzeile "Die Erde ist freundlich, warum wir eigentlich nicht?" genommen - was an und für sich ja eine gute Frage ist, die allerdings definitiv nicht auf den Berliner Politikbetrieb gemünzt sein kann.
Eine gewisse Ruppigkeit ist da sozusagen eine der Grundvoraussetzungen für ein geregeltes Miteinander. Wer nicht gelegentlich rumröhrt wie ein Hirsch gilt im Berliner Kosmos als Weichei und eher von minderer Politiktauglichkeit. Das ist nicht neu, war in früheren Zeiten aber meist dem Verhältnis von Regierung zu Opposition vorbehalten. Neu ist nun, dass seit Amtsantritt der schwarz-gelben Koalition das Raue dominiert, ohne dass da irgendeiner besonders bemüht wäre, den Verdacht auf Herzlichkeit aufkommen zu lassen. Zu den schöneren, hinter vorgehaltener Hand überlieferten Zitaten dieser Tage gehört ganz sicher die Einlassung des brummigen Seebärs Peter-Harry Carstensen (CDU, Kiel, Ministerpräsident): "Ihr habt sie doch nicht alle." Mit "Ihr" gemeint sind die eigenen, nun ja, Parteifreunde, die dem FDP-Hauptanliegen, die Steuern zu senken, ziemlich erlegen sind. Carstensen kommt an diesem Wochenende eigens nach Berlin angereist, um dort erst mal die Bremse reinzuhauen, wo das schwarz-gelbe Merkel-Kabinett eigentlich das "Wachstumsbeschleunigungsgesetz" starten möchte.
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"Wachstumsbeschleunigungsgesetz" klingt ja super, erinnert wortschöpferisch ein bisschen an die selige "Dünnsäureverklappung" aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, nur eben noch positiver. Dass da einer was gegen haben kann, wie Carstensen oder der eine oder andere Ministerpräsident in den Bundesländern, hängt mutmaßlich mit dem besonderen Blickwinkel zusammen. Denn, so viel Physikkenntnis hat unsereiner noch allemal: Wer beschleunigen will, der braucht Energie. Und Carstensen und Konsorten haben den schweren Verdacht, dass sich der Bund die Energiezufuhr aus den Ländern beschaffen will.
Schön übrigens auch der Part von Christian Wulff dabei, Carstensens Amtskollege aus dem benachbarten Niedersachsen. Der will auf keinen Fall, dass sich das Bremsklotzverhalten des Seebärs von der Waterkant nur für ihn alleine auszahlt. "Vergünstigungen, die für ein schwarz-gelbes Land gelten", sagt Wulff, "müssen für alle Länder gelten". Vor allem auch für Niedersachsen heißt das, was Wulff aber nicht so explizit sagt.
Man merkt: Da wächst auseinander, was eh so recht nicht zu diesen Zeiten passen will. Elegantere Rhetoriker wie der neuen CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble nennen das "Kompromiss." Schäuble beispielsweise hat sich lieber mal von der geplanten Mehrwertsteuersenkung für Hotelübernachtungen distanziert: "Das war nicht meine Idee", was die etwas vornehmere Umschreibung für "Ihr habt sie doch nicht alle ist". Wenigstens bleibt das Frühstück mit 19 Prozent besteuert, was womöglich den stellvertretenden Fraktionschef der Grünen, Fritz Kuhn, besänftigen wird. Kuhn erhält hier an dieser Stelle den Abwaschwasserpreis der Woche für die schönste Wiederverwendung eines lange aus der Mode gekommenen Begriffs, nämlich des der "Spendierhose". Das Zitat lautet im Original: "Wer so hohe Schulden machen muss, sollte schleunigst die Spendierhosen ausziehen." Sprachbildlich ist das ja die Aufforderung, dass sich die Regierung entblößen, vulgo: nackig machen soll. Eine Formulierung, die wiederum recht nah am Vokabular des früheren SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering liegt. Der sprach früher, als es ihm noch vornehmlich um Politik ging desöfteren davon, dass man sich "ehrlich machen" müsse. Sich ehrlich machen liegt irgendwo zwischen "Kompromiss" (Schäuble) und "Ihr habt sie doch nicht alle" (Carstensen), haushälterisch müsste es in etwa lauten: "Wir haben keine Kohle mehr".
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Das aber sagt vorerst niemand. Jedenfalls sind wir bereit, darauf einen Eimer Abwaschwasser zu wetten, dass vor den Wahlen in Nordrhein-Westfalen die Lage als zwar kritisch, aber lange nicht so ernst gezeichnet wird, als dass da die Steuerdiskussion auch mal mit ganz anderen Vorzeichen geführt werden könnte.

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Franz Müntefering übrigens wird den Begriff des "sich ehrlich machen" heute in ganz besonders aparter Weise interpretieren und seine Michelle ehelichen. Mag ja sein, dass das mit Politik nix zu tun hat, ganz sicher aber mit dem "Stück vom Himmel", von dem Grönemeyer ja auch singt, wenn er sich fragt, warum wir eigentlich so oft nicht freundlich sind.