Das Corona-Vakzin des britisch-schwedischen Herstellers Astrazeneca soll in der Regel nur noch für Menschen ab 60 Jahren eingesetzt werden. Unter 60-Jährige sollen sich nach ärztlichem Ermessen, Risikoabwägung und sorgfältiger Aufklärung weiterhin damit impfen lassen können. Hintergrund sind Fälle von Blutgerinnseln in Hirnvenen.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) rechtfertigte die auf eine Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) beruhende Entscheidung mit Blick auf das Vertrauen in die Corona-Impfungen, räumte aber auch eine Verunsicherung ein. "Vertrauen entsteht aus dem Wissen, dass jedem Verdacht, jedem Einzelfall nachgegangen wird", sagte sie am Mittwoch nach Beratungen mit den Ministerpräsidenten der Länder. CSU-Chef Markus Söder schlug vor, die Impfreihenfolge für das Vakzin komplett aufzulösen und forderte: Wer will und wer es sich traut quasi, der soll auch die Möglichkeit haben."
So kommentiert die Presse die Astrazeneca-Turbulenzen:
"Mitteldeutsche Zeitung": Die Spitzenpolitiker sind für eine Menge Chaos verantwortlich. Aber für die Schwächen eines Impfstoffs können sie nun wirklich nichts. Das liegt in der Verantwortung der Hersteller. Hier können Politiker deren Chaos nur bestmöglich verwalten. Und das tun sie im Fall von Astrazeneca. Wenn die Ständige Impfkommission (Stiko) auf Fälle von Hirnvenenthrombosen verweist, müssen sie auf die Bremse treten. Es ist wichtig, dass die Bundesregierung und die Länder Transparenz über die Schwachstellen für alle öffentlich machen.
"Stuttgarter Zeitung": "Angesichts der dritten Welle ist es zu begrüßen, dass der Einsatz von Astrazeneca bei Jüngeren nicht kategorisch ausgeschlossen wird. Auch wer noch keine 60 ist, kann sich impfen lassen, wenn er – wie fast alle Fachleute – das Risiko einer Corona-Erkrankung für größer hält als das einer seltenen Nebenwirkung, die zudem gut behandelbar ist. Der Umgang mit Astrazeneca zeigt zudem, dass die Überwachung der Impfstoffe gut funktioniert und dass bei Bedarf schnell gehandelt wird."
"Hannoversche Allgemeine Zeitung": Es gibt so viele Medikamente, die wir trotz der markierten möglichen Nebenwirkungen nehmen, weil wir die eigentliche Gefahr bekämpfen wollen. Und so verhält es sich auch mit diesem Impfstoff. Für über 60-Jährige gibt es nun die Chance, mit Astrazeneca früher geimpft zu werden, als es die Priorisierung in der Impfkampagne vorsah. Die Gefahr, durch das ersehnte Vakzin schwer zu erkranken, liegt im Promillebereich. Die Gefahr, an Corona zu erkranken und schwerste Folgen davonzutragen, ist dramatisch höher.

"Augsburger Allgemeine": "Bevor aber wertvoller Impfstoff liegen bleibt und verdirbt, sollten Personen, die nach geltender Reihenfolge noch gar nicht dran wären, die Möglichkeit erhalten, sich damit immunisieren zu lassen. Für viele Menschen böte sich so die ersehnte Chance, ihr persönliches Corona-Risiko schneller entscheidend zu senken."
"Leipziger Volkszeitung": Was die Bundesregierung und die Länder jetzt herstellen, ist richtig und wichtig: Transparenz. Sie machen die Schwachstellen für alle öffentlich. Das ist vertrauensbildend, weil damit jeder weiß, dass Probleme nicht vertuscht oder verheimlicht werden. Was jetzt noch fehlt, ist ein neuer Anlauf der Vertrauensbildung. So ein Mutprobe-Spruch wie vom bayerischen Ministerpräsidenten und CSU-Vorsitzenden Markus Söder ist da in dieser Phase ziemlich daneben, wonach sich doch mit Astrazeneca impfen lassen solle, "wer will und wer sich’s traut". Da winkt man gern ab. Mehr Mut macht es, wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt, dass sie auch diesen Impfstoff nähme. Aber Merkel ist auch 66 Jahre alt und gehört damit nicht zu der jetzt erfassten Risikogruppe.
"Nürnberger Nachrichten": Wer zweifelt, neigt zum Zögern. Die bereits entstandene Verunsicherung kann dazu führen, dass viele die Impfung als solche generell ablehnen. Das kann nicht im Sinn der Politik sein. Mit Logik, medizinischen Fakten und Statistik ist in solchen emotionalen Momenten nicht viel zu wollen. Es gibt eine Reihe von Medikamenten, die weitaus häufiger Thrombosen (allerdings nicht die gefürchteten Sinusvenenthrombosen) auslösen als das Vakzin von Astrazeneca – Antibaby-Pillen zum Beispiel.

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"Neue Osnabrücker Zeitung": Der deutsche Umgang mit Astrazeneca ist ein gravierender Fall von Fehlentscheidungen, die sich bitter rächen werden. Dass die Ständige Impfkommission die Rufe von Impfspezialisten wochenlang ignorierte und erst jetzt nur noch Ältere statt Jüngere mit Astrazeneca impfen lassen will, ist ein schweres Versäumnis. Den Gipfel der Verantwortungslosigkeit hat CSU-Chef Markus Söder erklommen, indem er den Eindruck erweckt, die Astrazeneca-Impfung sei eine Mutprobe. So zerstört man das Restvertrauen in ein Vakzin, das unverzichtbar ist, um die gefährliche Pandemie endlich zu stoppen. Den Karren aus dem Dreck ziehen müssen jetzt die Hausärzte. Anders als falsch vorsichtige Kommissionen und überforderte Politiker können sie einschätzen, wo ein Risiko vorliegen könnte und wo nicht.
"Die Glocke" (Oelde): Zwar bescheinigen die allermeisten Experten, dass der Impfstoff sicher ist. Auch führende Politiker werben für ihn. Doch wenn Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sagt, dass sich jeder mit Astrazeneca impfen lassen kann, wenn er "sich’s traut", dann stiehlt sich der CSU-Chef aus der Verantwortung, allen Bürgern gleich sichere Impfstoffe anzubieten. Gute Werbung für die so wichtige, aber bisher katastrophal verlaufende Impfkampagne sieht anders aus. Es ist daher keinem Bürger zu verübeln, wenn er die Impfung mit Astrazeneca ablehnt.
"Schwäbische Zeitung“ (Ravensburg): Die nächste Volte in der traurigen Impfkampagne der Bundesrepublik Deutschland. Astrazeneca soll nur noch Menschen über 60 Jahren empfohlen werden. Das ist schon eine erstaunliche Entwicklung. Zuerst sollte das Präparat nicht an alte Menschen verimpft werden, dann kurzzeitig niemandem mehr, dann an alle Berechtigten ab 18 Jahren, jetzt nur noch älteren. Dass dieses Hin und Her das Vertrauen in diesen Impfstoff erschüttert, liegt auf der Hand. Wie es nun weitergehen kann, um den Impfzeitplan nicht völlig aufgeben zu müssen? Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder sagte dazu den bemerkenswerten Satz: "Wer will, und wer es sich traut quasi, der soll auch die Möglichkeit haben." Also, Freiwillige vor! Tatsächlich scheint dies im Fall von Astrazeneca der einzige Weg zu sein, um aus der Misere rauszukommen. Dies wird bürokratieverliebten Entscheidern zwar etwas Flexibilität abverlangen, gleichzeitig aber die Eigenverantwortung der Bürger stärken.
"Neue Presse" (Coburg): Nach medizinischen Indikationen, die natürlich untersucht werden müssen, geht jedes Land seinen eigenen Weg. Frankreich gibt Astrazeneca für alle über 55 Jahre frei, Deutschland setzt die Altersgrenze auf 60 Jahre, Dänemark und Norwegen haben den Impfstoff ganz aus dem Verkehr gezogen. All das sind Länder der EU. Da müssen Fragen gestellt werden: Wie wertvoll sind die Hinweise der Ema, wenn am Ende jeder das macht, was er für richtig erachtet? Wie schlagkräftig ist eine solche Behörde überhaupt? Die Antwort auf diese Wirrnisse sollten die Mitgliedstaaten bald finden.
"Rheinpfalz" (Ludwigshafen): Gleichwohl hatten Bund und Länder beim jüngsten Astrazeneca-Beschluss gar keine Wahl. Wenn Institutionen wie die Ständige Impfkommission Empfehlungen aussprechen, wären die Entscheider politisch mit dem Klammerbeutel gepudert, grundsätzlich andere Wege zu gehen. Politiker sind nicht die besseren Wissenschaftler. Schwindendes Vertrauen ist Gift für diese Impfkampagne. Ein Gegenmittel kann Transparenz sein. Immerhin sind - nach allem, was bekannt ist - die schweren Krankheitsfälle nicht unter den Teppich gekehrt worden.