Aus stern Nr. 05/2005 Freie Dementi Partei

Guido Westerwelle verbreitet, kritische Äußerungen über Guido Westerwelle seien "frei erfunden". Der stern ist so frei, die Dementis zu dementieren. Aus stern Nr. 05/2005.

Dies ist ein kleines Lehrstück. Über die Bedrängung der Wahrhaftigkeit im Journalismus. Über die Bedrängung der Wahrheit in der Politik. Und über die Bedrängung der Freiheit in der Freien Demokratischen Partei. Alles zusammen genommen wichtig und lehrreich genug, um in eigener Sache zu schreiben, in der Sache des stern. "Frei" ist in diesem Lehrstück die wichtigste Vokabel.

"Frei erfunden" nannte Guido Westerwelle, der Vorsitzende der Freien Demokratischen Partei, vor zwei Wochen im stern veröffentlichte Zitate prominenter Parteimitglieder über ihn, Guido Westerwelle. "Der Leichtmatrose" hieß der Artikel, verfasst von meinem Kollegen Hans Peter Schütz, 65, seit Jahrzehnten mit den Interna der FDP vertraut und von vorbildlich gnadenloser Unabhängigkeit. Dass sich Politiker als falsch zitiert gerieren, ist Alltag zwischen Politik und Presse. Dass ein Journalist aus der ersten Reihe des Berufs als Fälscher dargestellt wird, der Zitate in Serie frei erfindet, ist indes so außerordentlich, dass es zum Fall wird.

Schon am Tag, bevor der stern erschienen war - wie andere Spitzenpolitiker erhält auch Westerwelle das Blatt vorab -, hatte sich der Parteichef drei Dementis besorgt, ein viertes folgte nach Tagen. Keiner der Zitierten wandte sich direkt an den stern - sie nickten vor dem Geßlerhut des Vorsitzenden, allerdings in bemerkenswert unterschiedlicher Haltung.

Fall eins. "Der hat keine liberalen Inhalte. Das ist der schwächste Vorsitzende, den die FDP je hatte", zitiert der stern Hans-Dietrich Genscher im Bezug auf Westerwelle. Der habe "die ihm in den Mund gelegten Äußerungen (É) nicht getan", widerspricht nicht Genscher, sondern eine Sprecherin im Auftrag. "Diese Äußerungen entsprechen auch nicht der Auffassung des Ehrenvorsitzenden Hans-Dietrich Genscher." Dass die Äußerungen seiner Auffassung entsprechen, bekunden indes vier Zeugen aus Gesprächen mit Genscher, darunter einer, der dem Autor dieser Zeilen so vertraut ist, wie es kein Zweiter sein könnte.

Fall zwei. "Der Mann muss weg", zitiert der stern Walter Scheel zu Westerwelle. "Bisher habe ich mich niemandem gegenüber über den Parteivorsitzenden der FDP, Herrn Dr. Westerwelle, geäußert", erklärt der Altbundespräsident und lässt fein offen, ob er in der Sache so denkt. "Wenn ich mit Herrn Dr. Westerwelle politische Meinungen erörtern will, tue ich das in der wöchentlichen Präsidiumssitzung." Über Westerwelle geäußert, und zwar ganz so wie zitiert, hat sich Scheel indes nicht nur zweimal gegenüber dem Kollegen Schütz, der das unter Scheels Augen auf dem Block notierte, sondern auch gegenüber dem, der dem Autor dieser Zeilen so vertraut ist wie kein Zweiter.

Fall drei. "Er wird seiner Aufgabe nicht gerecht. Westerwelle schafft die FDP schon noch", zitiert der stern Burkhard Hirsch, den ehemaligen Bundestags-Vizepräsidenten. "Ich habe Ihnen ein solches Zitat nicht zugeschrieben, und ich habe mich natürlich auch nicht so geäußert, wie ich es nun gedruckt gelesen habe", zitiert die FDP-Pressestelle Tage später aus einem Brief Hirschs an Westerwelle. Schütz indes hat das gefährlich ehrliche Urteil am 13. November beim Liberalismus-Kongress der FDP in Berlin in einer Kaffeepause mit Hirsch auf dem Block notiert.

Fall vier. "Es fehlt jede Substanz, jedes Profil", zitiert der stern Mehmet Daimagüler. "Die von ihm mir zugeschriebenen Äußerungen habe ich weder wörtlich noch sinngemäß gemacht. Sie sind frei erfunden und entsprechen auch in keiner Weise meiner Meinung", verbreitet das junge Vorstandsmitglied per FDP-Presseerklärung. Schütz hat das Zitat, und ein paar mehr, bei einem Fest in Berlin auf dem Block notiert. Daimagüler stand daneben.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Wer von Medien fürsorgliche Verhüllung erwartet, erschrickt, wenn er der eigenen Wahrheit splitternackt begegnet

Vier Verbeugungen vor einem Hut: distanziert, widerwillig, verschämt, unterwürfig. Wer keine Alternative sieht, mag den Vorsitzenden eben nicht stürzen. Und wer von Medien fürsorgliche Verhüllung erwartet, erschrickt, wenn er der eigenen Wahrheit splitternackt begegnet. Noch zwei Zitate und ein Dementi, damit am Ende alles gut wird. Westerwelle verzichte "kaltschnäuzig auf die linksliberalen Themen" und habe "damit die Tür für die Grünen in den Großstädten geöffnet", zitiert der stern Gerhart Baum. "Ich dementiere nicht", ruft mir der Ex-Innenminister fröhlich bei einer Begegnung in Berlin zu.

"Illoyalität und Intrige ringen um die Vorherrschaft im liberalen Führungszirkel. Genscher seufzt und klagt über Westerwelle, Scheel sähe gern wieder Wolfgang Gerhardt an der Spitze der finanziell wie personell erschöpften Partei", zitiere ich mich selbst aus einer Kolumne des Jahres 2004. Ich dementiere mich auch nicht - und nun schon gar nicht mehr.

Dafür bin ich so frei, Guido Westerwelle zu dementieren, der im FDP-Präsidium behauptete, der stern habe sich schon für Gerhard Schröder bei der Wahl 2006 positioniert. Das ist falsch, richtig ist: Der Geßlerhut ist eine Matrosenmütze.

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Hans-Ulrich Jörges