Aus stern Nr. 50/2004 Wer wettet, will verlieren

Glauben Sie keinem, der Ihnen heute schon sagt, wer 2006 die Wahl gewinnt. Prognosen sind unmöglich geworden in der Politik - selbst für nur sechs Monate. Aus stern Nr. 50/2004.

Klare Sache. Die Merkel gewinnt nie. Keine Chance. Die ist einfach zu blass. Guckt immer so traurig, die Mundwinkel nach unten. Solch einer Frau vertrauen die Deutschen einfach nicht. Und jetzt auch noch der Gesundheitskompromiss mit Stoiber. Kapiert doch keiner. Viel zu kompliziert. Damit brauchen die gar nicht erst anzutreten 2006. Atemraubend, wie die sich selbst kaputtgemacht haben in ein paar Monaten. Aber Schröder! Der ist eben Profi. Einfach unschlagbar. Ist wieder dicke da, hat die Wirtschaft hinter sich und die SPD wieder hochgehievt. Ein Interview nach dem anderen, gibt den Sympathikus. Hat sein Raubtierlächeln wieder angeknipst. Die Adoption und der Hund und die Frau bei Rossmann. So einen wie den wollen die Deutschen in diesen Zeiten. Die Wahl ist gelaufen.

Klare Sache? Ach, woher. Nichts ist klar, gar nichts. Und nichts ist gelaufen. Auch wenn in diesen Wochen alles so klar erscheint. Und wenn alle so reden wie oben geschildert. Glauben Sie kein Wort und wägen Sie Ihres, damit Sie nicht auch so daherplaudern. Denn das hatten wir alles schon mal, bloß umgekehrt. Ist noch gar nicht lange her. Erinnern Sie sich?

Klare Sache. Der Schröder ist im Eimer. Dead Gerd walking (hab ich selbst geschrieben!). Ohne SPD-Vorsitz ist der Kanzler geliefert. Der Müntefering muss sich doch gegen ihn profilieren. Jetzt macht die SPD den Schröder klein. Und dann erst Hartz IV! Das ist der Todesstoß für die SPD. Geht mitten rein in die kleinen Leute. Jetzt braucht die CDU keinen Finger mehr krumm zu machen. Ist ein Selbstläufer für die. Die Wahl ist gelaufen.

Klare Sache? Die einzig klare Sache in der deutschen Politik ist, dass es keine klaren Sachen mehr gibt. Ein halbes Jahr liegt zwischen den beiden eingangs geschilderten Stimmungsbildern. Wer heute ganz oben jubelt, kann schon morgen ganz unten japsen. Und umgekehrt. Wir erleben das Ende der Fähigkeit zur Prognose, das Ende der Prognostizierbarkeit von Politik. Wer aktuelle Trends fortschreibt, mögen sie auch bombensicher erscheinen, wird widerlegt von der Wirklichkeit. Ein halbes Jahr mag der Blick noch in die Zukunft reichen, dann senkt sich Nebel über die Zukunft. Nur sechs kurze Monate? Selbst das ist schon gewagt.

Klare Sache. In Schleswig-Holstein hat die CDU im Februar keine Chance mehr. Mit dem Spitzenmann - wie heißt der noch gleich? Carstensen -, der in der "Bild"-Zeitung eine Frau gesucht hat. Unfassbar, diese Gestalt. Wie soll dem jemand vertrauen? Und im Mai in Nordrhein-Westfalen, da wird der Rüttgers untergehen. Der steht doch für nichts und wird immer nervöser. Der Steinbrück macht's wie der Schröder. Steht und steht. Das wollen die Leute.

Klare Sache? Vorsicht! Auch das las sich schon mal ganz anders. Vor einem halben Jahr. Nichts gilt mehr. Die güldenen Lehr- und Merksätze von gestern, die der guten alten Bundesrepublik, zerfallen zu Asche. Selbst der gilt nicht mehr: Wer die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen gewinnt, hat auch die Bundestagswahl 2006 gewonnen. Von wegen.

Wir leben in wirrer Zeit. Zwischen Vergangenem und Künftigem wuchert eine epochale Vertrauenskrise. Hoffnungen vagabundieren, Vertrauen giert nach neuer Bindung. Der Erdrutsch bei Wahlen, ehedem Republik-erschütternde Sensation, ist alltäglich geworden. Anfang 2004 lag Angela Merkel im direkten Vergleich zwei Punkte vor Gerhard Schröder, jetzt rangiert sie zweistellig hinter ihm, Anfang 2005 ist sie vielleicht wieder vorn. Schon keimt in ihrer Schwäche neue Stärke, und Schröders Horizont verdüstert sich.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Die einzig klare Sache ist, dass es keine klaren Sachen mehr gibt

Wer weiß schon, welche der erkennbaren Tendenzen am Ende die Oberhand behalten? Pro Schröder: Standfestigkeit, Charme, Irak-Dividende, Applaus aus der Wirtschaft, Hoffnung auf Deutschlands Einzug in den Weltsicherheitsrat (Herbst 2005), nationaler Taumel bei der Fußball-WM (Sommer 2006). Contra Schröder: Hartz-Schock und fünf Millionen Arbeitslose Anfang 2005, Flaute, Konsumboykott, Schulden, Pleiten. Die Union schiebt noch andere Jetons auf den Roulett-Tisch: Türkei, Werte, Nation. Und schüchtern: Reformen.

In Washington hantiert George W. Bush mit dem womöglich entscheidenden Thema: Krieg gegen den Iran. Nur ein Thema schlägt die Ökonomie: Frieden. Wetten, dass Schröder siegt, wenn er daraus wieder É? Halt! Immer noch nichts gelernt? Wer heute wettet, will verlieren. Die Wahl wird in den letzten sechs Monaten entschieden. Vielleicht auch sechs Wochen. Oder sechs Tagen. Klare Sache.

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Hans-Ulrich Jörges