Berlin³ Steinmeier und Selenskyj: Ende der politischen Eiszeit – am Telefon

Heute sprachen der ukrainische Präsident Selenskyj und Bundespräsident Steinmeier am Telefon
Heute sprachen der ukrainische Präsident Selenskyj und Bundespräsident Steinmeier am Telefon
© picture alliance/dpa | Kay Nietfeld // picture alliance/dpa | Kristin Schmidt
Wandel durch Annäherung – per Anruf. Eine dreiviertel Stunde sprachen der ukrainische Präsident Selenskyj und Bundespräsident Steinmeier miteinander. Bestehende Irritationen wurden dabei demonstrativ ad acta gelegt. Die Solidarität im Krieg geht vor.

Über den Wolken auf seiner Rückreise von Rumänien hatte es sich am späten Mittwochabend bereit angedeutet: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj würden am heutigen Donnerstag ihre persönliche Eiszeit beenden und endlich, endlich direkt miteinander sprechen. Es war sicher kein einfaches Telefonat, aber es dauerte dann doch immerhin eine gute Dreiviertelstunde – und wurde von beiden Seiten als sichtbare Botschaft nach außen verstanden, dass die Unterstützungsleistungen Deutschlands für die von Russland in einen Krieg gezwungene Ukraine nicht von persönlichen Spannungen gestört werden sollten.

Kurz vor dem symbolisch wichtigen Datum des 8. Mai und damit gerade noch rechtzeitig wurde damit ein diplomatisches Ärgernis höchster Güteklasse ausgeräumt, das durchaus das Potenzial hatte, das Verhältnis zwischen Berlin und Kiew nachhaltig zu belasten. Steinmeier hatte eigentlich bereits am 12. April gemeinsam mit seinem polnischen und seinen drei baltischen Amtskollegen nach Kiew reisen wollen, war dann aber kurz vor der gemeinsamen Abreise zur persona non grata erklärt worden. Auch ein am Abend zuvor verabredetes Telefonat mit Selenskyj war kurzerhand gecancelt worden. Beides zusammen war ein in 75 Jahren bundesrepublikanischer Geschichte bis dato einmaliger Fall, der am Tag der Ausladung sichtbar an Steinmeier nagte.

Bundeskanzler forderte Selenskyj und Steinmeier zur Annäherung auf

Wie Blei lag der ukrainische Affront gegen das in Kiew nicht gelittene deutsche Staatsoberhaupt seitdem auf den deutsch-ukrainischen Beziehungen – noch am Mittwoch hatte sogar Bundeskanzler Olaf Scholz eine sichtbare Annäherung zwischen Selenskyj und Steinmeier zur Bedingung gemacht, um sich überhaupt symbolisch wichtige Besuche seitens der deutschen Staatsspitze in Kiew vorstellen zu können.

Das soll nun prompt geschehen. Die protokollarische Bremse für die Reise deutscher Politiker in die Ukraine ist gelöst.  Zwar nicht Steinmeier und auch (noch) nicht Scholz, dafür aber Bundestagspräsidentin Bärbel Bas – protokollarisch die Nummer Zwei im Staate – wird am 8. Mai in Kiew sein, und zwar auf Einladung des ukrainischen Parlamentspräsidenten. Bas' Reise wirkt ein wenig wie mit heißer Nadel gestrickt, um das wichtige Datum des Endes des Zweiten Weltkriegs deutscherseits nicht auch noch verstreichen zu lassen. Überdies ist die SPD-Politikerin in den ersten Monaten im Amt weder durch besonderen intellektuellen Tiefgang noch durch nachhaltige außenpolitische Expertise aufgefallen.

Nichtsdestotrotz: Eine Begegnung mit Selenskyj ist durchaus denkbar. Bas wäre binnen kurzer Zeit damit die zweite Bundestagsabgeordnete nach CDU-Chef Friedrich Merz, die Selenskyj die Hand schütteln könnte. Und die erste aus der Ampel-Koalition, die sich auf Waffenlieferungen an die Ukraine verständigt hat.

Internationale Politik als Ritt auf der Rasierklinge

Steinmeier selbst will am 8. Mai in Berlin zur Eröffnung des DGB-Kongresses eine Rede halten, die sich schwerpunktmäßig mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt. Der Bundespräsident kann sich zugute schreiben, dass er – obwohl im April persönlich durch den Affront Selenskyjs gekränkt – die Notwendigkeit des Gesprächs stets gesehen hat und dabei die eigene Befindlichkeit hintangestellt hat.

Aus dem Telefonat drang am Donnerstag nichts nach außen. Einfach aber kann es nicht gewesen sein. Steinmeier ist der Ukraine nicht nur wegen seiner jahrelangen eher beschwichtigenden Haltung gegenüber dem Russland Wladimir Putins suspekt (was er inzwischen als Fehler eingeräumt hat). Er ist auch einer der "Architekten" des Minsker Abkommens, das 2015 die Grundlage für den Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland nach den Auseinandersetzungen im Donbass war. Selenskyj war stets ein vehementer Gegner des Minsker Abkommens. Er hat es als Verrat an der ukrainischen Souveränität angesehen.

Internationale Politik ist an manchen Tagen für alle Beteiligten wie ein Ritt auf der Rasierklinge. Für die 45 Minuten am Telefon traf das heute für Steinmeier und Selenskyj in ganz besonderem Maße zu.