Bildung Der Hilferuf der Berliner Schulen

Von Mandy Schünemann und Jacob Thießen
Es wird viel über die Bildungsrepublik gequatscht und wenig getan. Deswegen haben die notleidenden Schulen des Berliner Bezirks Mitte einen Brandbrief an die Politik geschrieben. Was hat er gebracht? Und was wird das Konjunkturpaket II für die Schulen bringen? stern.de war vor Ort.

Die Bevölkerung Deutschlands schrumpft - allein deswegen ist der Zuzug aus dem Ausland überlebenswichtig. Tatsächlich ist Deutschland inzwischen Europas Einwanderungsland Nummer Eins. Das bestätigt eine kürzlich publizierte Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Aber sie zeigt auch die Kehrseite der Entwicklung: Zugewanderte und ihre Nachkommen - also etwa 15 Millionen Menschen - sind im Durchschnitt schlechter gebildet und häufiger arbeitslos. Der Studie zufolge sind am häufigsten Türken betroffen. Etwa ein Drittel hat keinen Schulabschluss, nur 14 Prozent machen Abitur. Diese Zustände verspricht die Politik immer wieder zu ändern, gebetsmühlenartig sagt Kanzlerin Angela Merkel, die Bildungspolitik dürfe kein Talent vernachlässigen, die Integration müsse voran getrieben werden. Aber wie sieht es wirklich aus?

68 Schulleiter des Berliner Bezirks Mitte haben Mitte Januar einen Brandbrief losgeschickt. In dem Schreiben stellen sie fest, dass der Bezirk vor seinem "bildungspolitischen Aus" steht. Die Gründe: Personalknappheit, mangelnde Ausstattung und die unzureichende Integrationspolitik. Der Bezirk habe einen Migrantenanteil von 90 Prozent, eine hohe Kriminialitätsrate und die Mehrheit der Familien sei sozial benachteiligt. Das schlage auf die Schulen durch. Hier kämpften die Lehrer mit Analphabetentum, mangelnden Deutschkenntnissen und Schulabbrechern. Zeit und Geld für Fördermaßnahmen sei schlicht nicht vorhanden. Die Ergebnisse der Pisa-Untersuchung und der Studien Iglu und Timms zeigten die Resultate.

"Gute Schüler fliehen"

Die Folge: "Gute Schüler fliehen in Scharen aus dem Bezirk oder aus dem öffentlichen Schulsystem", heißt es im dem Brandbrief, Zulauf hätten dagegen die zahlreich gegründeten Privatschulen. "Es wird allerhöchste Zeit, dass nicht nur über Bildung geredet wird, sondern auch etwas passiert", resümiert Jochen Pfeifer, Schulleiter des John-Lennon-Gymnasiums, im Gespräch mit stern.de.

Pfeifer gehört zu jenen sieben Direktoren, die stellvertretend für alle 68 Schulen in Berlin-Mitte sprechen. Er sagt, dass insbesondere die Zurückhaltung der Berliner Integrationssenatorin Heidi Knake-Werner (Die Linke) für Ärger gesorgt habe. Erst lag der Brandbrief - genauso wie der Rütli-Brief vor drei Jahren - einen Monat lang beim Bezirksamt herum. Als er endlich Beachtung fand, habe die Integrationsbeauftragte das Thema nicht ernst genommen. "Das empfinden wir als ziemlich skandalös", sagt Pfeifer.

"Notschrei" findet Aufmerksamkeit

Ein Fortschritt sei dagegen das Treffen mit dem Berliner Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) in der vergangenen Woche gewesen. Es habe zwar keine konkreten Ergebnisse gegeben, so Pfeifer, aber der Senator habe den "Notschrei" wahrgenommen. Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), schaltete sich ein. Sie traf sich mit sieben Vertretern der Schulen in Berlin-Mitte zu einem Gespräch. Ein Sprecher Böhmers sagte stern.de, die Staatsministerin wolle sich in den kommenden Wochen verstärkt für die Belange der Schulleiter einsetzen. Sie werde sich unter anderem mit Botschaftern der Herkunftsländer der Zuwandererkinder treffen, um "die Relevanz der Elternarbeit" zu betonen.

Lee Hielscher, 20, Sprecher der Landesschülervertretung Berlin, steht voll hinter dem Brandbrief. "Dadurch ist eine Diskussion losgegangen, die bitter nötig war", sagt er zu stern.de. Seiner Ansicht nach leiden die Schulen unter einer "neoliberalen Bildungspolitik", die wesentliche Probleme missachte. "Zu viele Zuwanderer sind nicht das Problem", sagt Hielscher. "Wenn sie nicht richtig Deutsch können, muss man das eben fördern, zum Beispiel durch Programme wie Deutsch als Zweitsprache." Die Umsetzung hänge aber an vielen Schulen davon ab, ob Lehrer dazu bereit seien, "sich mehr oder weniger ehrenamtlich einzubringen".

Über 300 Millionen Euro für Berlin

Das Konjunkturpaket II wird daran vermutlich nichts ändern. Denn das auf die Berliner Schulen entfallende Geld - immerhin 308 Millionen Euro - ist hauptsächlich für Bauinvestitionen vorgesehen. "Das ist etwas, was einen Teil unserer Forderungen entschärfen kann", sagt Direktor Pfeifer. Aber eben auch nur einen Teil - den was nutzt die schönste Schule, wenn dort weiterhin kein Geld für zusätzlichen Deutsch-Unterricht ist? Obendrein sorgt sich Pfeifer, dass ein Teil des Geldes für die Schulreform abgezwackt wird. Der rot-rote Senat will will Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu einer Regionalschule zusammenlegen.

Aus Kostengründen wurden in den vergangenen Jahren bereits zahlreiche Schulen "fusioniert", zum Beispiel die Max-Planck-Oberschule und das Charles-Darwin-Gymnasium in Berlin Mitte. Solche Zusammenlegungen bringen allerdings immer wieder erhebliche Unruhe mit sich: Die Schüler müssen sich an neue Räume, Lehrer und Klassenkameraden gewöhnen. "Wir haben große Probleme, die Schüler des ehemaligen Charles-Darwin-Gymnasiums zu motivieren", sagt Schülersprecher Yannik Maximilian Schneider zu stern.de. Der Grund: Die Darwin-Schüler pauken jetzt im Gebäude der Planck-Schule - und zwar in großen, neu zusammengesetzten Klassen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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"Kein Gymnasial-Niveau"

Auch hier macht sich die Probleme der Integrationspolitik bemerkbar. "44 Prozent der Schüler sind nicht-deutscher Herkunft", sagt Schneider. "Es sind einfach keine ordentlichen Deutschkenntnisse vorhanden. Der Unterricht in Geschichte leidet zum Beispiel unheimlich darunter, weil die Texte nicht so kompliziert sein dürfen." Hätte Yannik ein Kind, würde er es nicht auf seine Schule schicken. "Das Niveau" entspräche einfach "nicht mehr dem eines Gymnasiums".

Mitarbeit: Lutz Kinkel

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