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Buchvorstellung "Gefängnis-Notizen" Egon Krenz und sein Paralleldeutschland

Er schimpft über die Urteile gegen Grenzsoldaten und hält die DDR für einen Staat des Friedens: Egon Krenz hat sein neues Buch vorgestellt - vor einem sehr dankbaren Publikum. Bei dieser Gelegenheit erklärte er auch, warum der 9. November 1989 für ihn kein Tag zum Feiern war.
Von Sebastian Christ

Das Verlagshaus des Neuen Deutschlands ähnelt einem gigantischen Aktenschrank, der von Gott aus lauter Zorn auf eine Wiese in der Nähe des Berliner Ostbahnhofs geschleudert wurde. Es gibt keine Balkone, keine Zierelemente an den Fassaden, dafür Kassettenfenster und Stahlrippenstrukturen. Vor dem Gebäude steht ein weit hervor hängendes Vordach aus Beton, das wie eine stillgelegte Ordnerrutsche aussieht. Und ringsum recken sich Hochhäuser, deren erleuchtete Fenster abends mehr Farbe verstrahlen als alles andere in dieser Gegend. An kaum einen Ort in der Hauptstadt ist die alte, verstorbene DDR noch derart real zementiert wie am Franz-Mehring-Platz. Genau hier stellt Egon Krenz am Mittwochabend sein neues Buch vor: "Gefängnis-Notizen".

Der Münzenbergsaal im Verlagsgebäude ist bis auf den letzten Platz belegt. Jemand hat einen Schriftzug an den Zwischentür geklebt: "Ausverkauft!!!" Die letzten Karten sind eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn weggegangen. Manche müssen stehen, einige Medienvertreter nehmen auf den Fensterbänken Platz. Krenz sitzt an einem Linoleum-Tisch auf einem Stahlrohrstuhl, er wird vorgestellt. Dann legt der ehemalige DDR-Spitzenfunktionär los. Zuerst lästert er über Angela Merkel, kommt aber schon Sekunden später ohne Umschweife zum Kernsatz des Abends: "Was ist denn das für eine Gesprächskultur am Anfang eines solchen Jahres? Ganze Gruppen werden ausgegrenzt, weil sie sich anders erinnern."

Haarausfall und Fönfrisur

Im Saal ist es still. Hier lauscht heute ein Paralleldeutschland, das sich meistens versteckt hält. Ein stetig alterndes Land, das vor 20 Jahren die Luft angehalten hat. Dessen Nationalfarbe Steingrau ist. Grau wie die Haare der meisten Gäste, grau wie die Jackets, grau wie die Pullover, grau wie das Gebäude des Neuen Deutschlands. Wenn es im Raum Farben gibt, dann sind sie gedeckt: Zartblau, Blassgrün, Anthrazit. Von hinten sieht man Haarkränze, auch kreisrunden oder gar totalen Haarausfall. Viele der Damen haben Fönfrisuren, so wie sie in den 80er Jahren modern waren. Die meisten Gäste im Saal haben in der DDR ein halbes Erwachsenenleben verbracht. In welchem Beruf? Darüber reden viele nicht so gerne. Was ihnen jedoch wichtig ist: Niemand hat das Recht, ihnen dieses halbe Leben zu stehlen.

Von Egon Krenz weiß man, was er in der DDR gemacht hat: Chef der Jugendorganisation FDJ, Politbüromitglied und im Jahr 1989 für wenige Wochen Staatsratsvorsitzender der DDR. Er braucht sich mit seiner Biografie nicht zu verstecken, es hätte keinen Sinn. Sein Gesicht ist bekannt, er war am 9. November 1989 Staatschef der Deutschen Demokratischen Republik. Wenn einer die Interessen des steingrauen Paralleldeutschlands vertreten kann, dann der "Genosse Egon".

Seine Einführungsrede gleicht einer Predigt. Er spielt mit seiner goldumrandeten Brille. "Welche Rolle spielt denn heute noch das Volk? Noch nicht einmal das Versprechen wurde eingelöst, dass nach 1990 über ein neues Grundgesetz beraten würde." Krenz lässt sich selbst kaum Zeit, um Luft zu holen. "Die 68er-Verfassung der DDR war die einzige, die vom Volk beraten wurde und die letztlich in einer Volksabstimmung angenommen wurde." Das Publikum klatscht. "Ich brauchte nicht erst Herrn Kinkel um zu wissen, was mit mir passiert, wenn die Bundesrepublik Zugriff auf die DDR bekommt. Ich habe auch im Gefängnis nach dem Motto gelebt: Wer sich nicht wehrt, der lebt verkehrt."

Kein Wort über Mauertote

Im Saal sieht man immer wieder nickende Köpfe. Krenz ist heute Abend derjenige, der sich das auszusprechen traut, was viele denken. Egal, ob das richtig oder falsch ist. Krenz arbeitet nicht auf, sondern sich selbst ab. An seinen großen und kleinen Gegnern, an der Bundesrepublik, an allen, die ihn und seine Leute in den vergangenen Jahren wegen der Verbrechen in der DDR abgeklagt haben. Es ist fast unheimlich: Jeder fühlt sich in diesem Saal im Recht. Als ob nichts gewesen sei. Kein Wort über die Mauertoten, kein Wort zur Stasi, kein Wort zur Beschneidung der Menschenrechte.

Als er einige Minuten später Bundespräsident Horst Köhler kritisiert, ist dutzendfach ein leises, kehliges Lachen zu hören. Laut genug, um als Zustimmungsgeste wahrgenommen zu werden und leise genug, um den Vortrag nicht zu stören. "Wenn schon die DDR-Geschichte nicht verklärt werden darf", sagt Krenz, "warum schließt Köhler dann nicht auch die Geschichte der alten und der neuen Bundesrepublik mit ein?" Seine Frage ist rhetorisch gemeint. Die Antwort gibt er selbst: "Mein Vorschlag für dieses Jahr: Machen wir die DDR nicht schlechter, als sie war, und die Bundesrepublik nicht besser, als sie ist." Sein Urteil über die Deutsche Demokratische Republik: "Ein Staat, der nie Krieg auf deutschem Boden geführt hat, der hat es verdient, besser behandelt zu werden."

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Krenz sieht sich als Kämpfer

Heute Abend haben Krenz und die Zuschauer einen Pakt geschlossen. Er fungiert als eine Art Ein-Mann-Regierung aus dem geistigen Exil, die Besucher sind seine Untertanen und dürfen sich im Gegenzug einen Abend lang aufgehoben fühlen.

Krenz' Stimme ist fest, sie klingt voller Überzeugung. Gerade dann, wenn er über seine Sicht auf den 9. November 1989 spricht. "Wohl dem, der das als Volksfest feiern konnte. Ein falscher Befehl oder eine falsche politische Entscheidung, und es wäre schlimm gekommen für Deutschland", so Krenz. "Am 9. November haben die Grenztruppen durch ihr besonnenes Handeln Deutschland und vielleicht der Welt den Frieden gerettet." Seine nächste These: "Gewalt gegen das eigene Volk ist in der Weltanschauung eines Sozialisten nicht vorgesehen. Deshalb ist am 9. November Sekt geflossen, und kein Blut."

Dann fängt er an, aus seinem Buch zu lesen. Es gab in den vergangenen Tagen Zeitungsartikel, in denen Krenz "Jammerei" in Bezug auf seine Gefängniszeit unterstellt wurde. Krenz verbittet sich das. Er sieht sich selbst als Kämpfer.

In der anschließenden Fragerunde traut sich zunächst kaum jemand, den ehemaligen Staatschef direkt anzusprechen. Eine Frau mittleren Alters, die am Bühnenrand sitzt, nutzt diese Gelegenheit und stellt gleich mehrere Fragen, die weder lobend noch kritisierend gemeint sind. Als sie sich zum dritten Mal meldet, schnauzt sie ein älterer Mann in Militärton an. "Stehen sie doch mal auf", sagt er. Seinem Nachbar ist der Tonfall nicht ganz geheuer. "Warum denn?", fragt er zurück. "Wir wollen die Dame mal sehen", bekommt er als Antwort zu hören. Ein Dritter sagt: "Ach, lassen sie mal, die Zeiten sind doch vorbei."

"Glückliche Kindheit bis 1989"

Eine 28-Jährige mit rot-braunen Haaren, die hinter einem Pfeiler steht, bekommt das Mikrofon gereicht. Ihre Stimme zittert, und sie ist kaum in der Lage, das Mikrofon gerade zu halten. Sie bezeichnet sich selbst als "Traumaopfer" der Wende. Nach 1990 habe sie die Schule gewechselt, von Ostberlin nach Kreuzberg. Dort habe man sie nur als "Ossi-Schlampe" bezeichnet. "In der DDR hatten wir Kinderfeste, wir konnten rausgehen", sagt sie. "Wir wurden so runter gemacht von den Westlern, immer wurde gesagt, wir sollten uns schämen. Wofür? Wir hatten eine glückliche Kindheit bis 1989."

Krenz dämpft seine Stimme. Er sagt, dass ihn dieser Redebeitrag sehr berühre, und er versucht, der jungen Frau Mut zu machen: "Sie werden noch erleben, dass der Kapitalismus nicht das letzte Wort in der Geschichte ist", ruft er ihr zu. "Es wird auch deshalb so schlecht über die DDR geredet, weil man sämtliche Gedanken an eine Alternative im Keim ersticken will."

Der ganze Saal klatscht. Die Rentner, die Rentnerinnen, auch die wenigen jungen Sozialisten und Kommunisten im Saal. Die junge Frau mit den rot-braunen Haaren holt weit aus, hält ihre Unterarme auf gleicher Höhe und lässt dann ihre Handflächen laut aufeinander knallen.

Politbüro-Klatschen nannte man das früher. Aber: Was heißt schon früher?

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