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Ende der epidemischen Lage Der "Freedom Day" rückt näher – doch das ist viel zu früh

"Freedom Day"
Die Ampel-Parteien haben den "Freedom Day" in Aussicht gestellt. Die Masken können aber frühstens Ende März fallen.
© Peter Kneffel / DPA
Die epidemische Lage läuft aus und im März soll der Corona-Spuk vorbei sein. So scheint es, denn dann sollen alle Schutzmaßnahmen fallen. Mit der Begründung, die Situation sei eine andere als letztes Jahr, macht es sich die Politik aber zu einfach.

Wollte Jens Spahn sein Amt mit einem letzten großen Paukenschlag beenden? Wissen wird man es wohl nie, gelungen ist es ihm aber. Seit einer Woche sorgt der Gesundheitsminister mit der Entscheidung, die epidemische Lage auslaufen lassen zu wollen, für Schlagzeilen. Die einen applaudieren, die anderen protestieren – und mancher fragt sich, was diese Entscheidung nun bedeuten solle. Der "Freedom Day" ist es schon einmal nicht. Der ist laut Ampel-Parteien für den 20. März geplant. Erst dann können die Masken fallen wie die Klamotten am FKK-Strand.

Darauf muss sich das Land natürlich vorbereiten. Den ersten Schritt in diese Richtung will die Politik am 25. November tun. Dann soll die politische Entscheidungsgewalt über das öffentliche Leben zurückgefahren werden. "Die Situation ist heute eine ganz andere", sagen Politiker, wenn sie das Ende der epidemischen Lage rechtfertigen. Und sie haben recht, die derzeitige Situation ist eine andere – aber verbessert hat sie sich nicht, zumindest was die Inzidenzen angeht. Für das Ende der epidemischen Lage und der Schutzmaßnahmen ist es eindeutig zu früh.

Widersprüchliche Entscheidung

Zur Erinnerung: Die epidemische Lage nationaler Tragweite trat am 28. März 2020 in Kraft. Damals bezifferte das RKI die Inzidenz auf 58, am Vortag hatten sich knapp 6300 Menschen mit dem Coronavirus infiziert. Prompt änderte die Politik das Infektionsschutzgesetz. Trat ein seuchenrechtlicher Notfall ein, der unter anderem die Gesamtbevölkerung und das Gesundheitssystem gefährdete, konnte der Gesundheitsminister ohne das Parlament unter anderem Lockdowns verhängen. Als Jens Spahn das Ende der Notlage verkündete, lag die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei 74 pro 100.000 Einwohner. Etwas mehr als eine Woche später ist sie auf 118 gestiegen – eine Trendwende bisher nicht absehbar.

Dass die Politik mit ihren Entscheidungen Hoffnungen auf ein baldiges Ende der Pandemie provoziert, ist schon allein deshalb unverantwortlich. Wir werden mit dem Virus leben müssen, das war schon im Frühjahr 2020 klar. Aber dafür müssen wir die Pandemie in den Griff bekommen, bestenfalls mit der Impfung. Die Inzidenzen zeigen, dass uns das gegenwärtig nicht gelingt. Mit Blick auf die Corona-Zahlen standen wir letztes Jahr um diese Zeit sogar besser da als jetzt. Am 27. Oktober 2020 lag die Inzidenz bei 87. Damals war noch niemand geimpft. Dafür hielten sich die meisten brav an die Masken- und Quarantänepflicht. Jetzt häufen sich Meldungen über Impfdurchbrüche und schwere Krankheitsverläufen trotz doppelter Immunisierung.

Mehr Tempo beim Boostern, bitte!

Klar, die Gesamtzahl der Impfdurchbrüche werden mit steigender Impfquote häufiger. Und der Impfschutz ist unbestreitbar – auch wenn Geimpfte trotzdem weiterhin ansteckend sind, selbst wenn sie nicht erkranken. Besorgniserregend ist aber ein ganz anderer Punkt: Der Impfschutz nimmt ab, wie mehrere Studien nahelegen. Die ersten Vakzine wurden Ende Dezember 2020 verabreicht, Vorrang hatten damals vulnerable Gruppen, darunter über 80-Jährige und medizinisches Personal. In den darauffolgenden Monaten arbeiteten sich mobile Impfteams und Hausärzte durch die verschiedensten Altersgruppen bis am 7. Juni schließlich alle Erwachsenen ein Impfangebot erhielten.

Doch was passiert nun mit denen, deren Impfung schon mehr als ein halbes Jahr zurückliegt? Ihr Risiko, sich und andere zu infizieren und selbst zu erkranken, steigt wieder. Wie sie sich verhalten sollen, darauf gibt es bisher keine klare Antwort. Immerhin gibt es die Booster-Impfung. Aber auch hier zeichnet sich dasselbe Prozedere wie zu Beginn der Impfkampagne ab. Es braucht keine Rechtfertigung dafür, dass vulnerable Gruppen zuerst immunisiert werden. Was es braucht, ist Schnelligkeit. Wenn wieder in diesem Schneckentempo vorarbeiten, sodass erst nach sieben Monaten der Gesamtbevölkerung ein Angebot für eine Booster-Impfung gemacht werden kann, dann ist es nicht verwunderlich, wenn die Inzidenzen im Winter wieder durch die Decke schießen.

Hinzu kommt die hohe Inzidenz unter Kindern, für die es noch keine Impfempfehlung von der Ständigen Impfkommission (Stiko) gibt. Zuletzt hatte das Bundesland Niedersachsen die Maskenpflicht im Klassenraum abgeschafft. Experten kritisieren das – zu Recht. Sollte der Unterricht nicht zum Superspreader-Event werden und die Politik demnächst auf Lockdowns und Schulschließungen verzichten wollen, muss die Maskenpflicht wieder her. Aus Fairness müssten sich auch Arbeitnehmer daran halten. Denn Impfung hin oder her: Sie schützt nicht zu 100 Prozent vor einer Übertragung des Virus. Für Ungeimpfte oder jene, deren Immunisierung schon eine Weile her ist, kann das fatal sein. So gesehen hängen wir alle im Schlamassel mit drin. Auch Geimpfte.

Das Virus hat es in der Hand

Solange die weiteren Impfungen – egal ob es sich um den ersten, zweiten oder dritten Pieks handelt – noch vor sich hindümpeln, die Inzidenzen steigen und die Kleinsten in der Gesellschaft ungeschützt sind, ist die Entscheidung der Politik unverhältnismäßig. Schutzmaßnahmen sind unumgänglich. Vor allem wenn die epidemische Lage ausläuft. Einige könnten das als Entwarnung verstehen. Nach dem Motto: Der Ernst ist vorbei. Sicherlich sehnen wir alle das Ende herbei. Doch zu welchem Preis?

Als Kritiker des gegenwärtig eingeschlagenen Pandemiekurses konnte man bis heute noch darauf hoffen, dass Lauterbach – ebenfalls Kritiker der Spahn'schen Entscheidung – unter der neuen Regierung Gesundheitsminister wird und die Entscheidung seines Vorgängers rückgängig macht. Doch darauf kann man sich jetzt nicht mehr verlassen, denn auch die Ampel-Parteien wollen die epidemische Lage auslaufen lassen und eine Übergangsphase einläuten. Ob sie diese Entscheidung zurücknehmen und die Maßnahmen im Winter wieder verschärfen müssen, hängt dann wohl einzig und allein am Virus. Sich darauf zu verlassen, ist aber auch nicht die Lösung.

Spahn könnte am Ende als Gesundheitsminister, der das Pandemieende einläutete, in Erinnerung bleiben. Oder als der, der das Land in die nächste Welle geschubst hat. So oder so ein Paukenschlag.

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