Was für ein Gefühl verbinden Sie mit Europa?
Ein sehr positives Gefühl, weil ich seit 1986 konkret in Europa arbeite. Wir haben damals in Hamburg das European Film Distribution Office gegründet, den Vorläufer des heutigen Europäischen Media-Programms. Das war die erste große paneuropäische Initiative im Filmbereich. Damals waren wir jeden zweiten Tag in Brüssel und haben auf diese Art schon ein positives Verständnis für Europa entwickelt. Sonst fällt einem zunächst etwas anderes ein, wenn man an Europa denkt, nämlich Bürokratie, Papierverbrauch und außer Spesen nix gewesen.
Sie sind Mitglied der Initiative "Bürger für Europa", Sie haben für die Osterweiterung geworben und die EU-Verfassung. Weshalb sind Sie so europhil?
Europhilie ist das eigentlich nicht. Europa ist eine starke Idee, bei der jeder mitmachen kann, der sich ihr verbunden fühlt. Ich hoffe, ich liege richtig, wenn ich Europa als eine Idee sehe, die die Menschenrechte verteidigt - vor allem vor dem Hintergrund der wahnsinnigen Kriege, die in Europa geführt worden sind, wo Länder wahllos zerstückelt und in ethnischen Einheiten zusammengefasst wurden wie beispielsweise im ehemaligen Jugoslawien. Wenn Sie das überwinden wollen, muss es Mindeststandards geben, die die Länder erfüllen, um Mitglied in diesem "Club der guten Europäer" zu sein.
Zur Person
Dieter Kosslick, 56, leitet seit 2001 als Direktor das Internationale Filmfestival Berlin, die Berlinale. Zuvor war der gebürtige Pforzheimer und studierte Kommunikationswissenschaftler unter anderem Redenschreiber des einstmaligen ersten Bürgermeisters Hamburgs, Hans Ulrich Klose, Redakteur der Zeitschrift „Konkret“ und Leiter der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen. Dieter Kosslick bezeichnet sich selbst als begeisterten Hobbykoch. Er engagiert sich in der Initiative "Bürger für Europa."
Europa steht aus Ihrer Sicht in erster Linie für Menschenrechte?
In der Phase, in der wir uns befinden, steht Europa für die Heilung von Wunden, die in den letzten hundert Jahren hinterlassen worden sind. Wir sind mitten in der Phase der Akzeptanz der Anderen. Die Akzeptanz ist größer geworden - trotz einer der unerfreulichen Folgen der Einführung des Euros ...
Was stört Sie am Euro?
Alles ist doppelt so teuer geworden, nur die Gehälter haben sich nicht verdoppelt. Es war nicht durchdacht. Im Restaurant hier um die Ecke kostet Beelitzer Spargel jetzt 12,50 Euro - und früher hat er eben 12,50 Mark gekostet. Daran können wir uns doch alle erinnern. Allerdings hat Europa, was die Wirtschaft betrifft, auch eine positive Rolle. Die einzelnen Mitglieder würden heute ganz anders unter der Globalisierung leiden, hätten sie nicht eine Vorbereitung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft durchlaufen. Es war ein Probelauf in Klein für das, was jetzt weltweit passiert.

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Auf der Berlinale haben Sie in diesem Jahr USA-kritische Filme wie George Clooneys "Syriana" und Michael Winterbottoms "The Road to Guantanamo" gezeigt. Ist die EU für Sie mittlerweile ein Gegenentwurf zu den USA?
Wir haben nicht speziell die USA kritisiert. Die Filme haben Menschenrechtsverletzungen angeprangert und gezeigt, dass bestimmte Dinge einfach nicht gehen - egal wo, ob sie in Amerika geschehen oder in Europa, in Asien oder in Tschetschenien. Die Kritik richtet sich gegen politische Missstände - einerlei, wo sich diese abspielen. Den Vorwurf des Anti-Amerikanismus akzeptiere ich übrigens nicht. Wenn man den amerikanischen Präsidenten kritisiert, bedeutet das nicht, dass man anti-amerikanisch sei.
Wenn Sie einen Film über den gegenwärtigen Zustand Europas machen würden, würde das eine historische Dokumentation in Schwarz-Weiß werden, eine Tragödie, oder doch eher eine Satire?
Eine Komödie - so wie "One Day in Europe" von Regisseur Hannes Stöhr. In einer Komödie lernt man viel über Stereotypen - und man kann sie wunderbar zerstören, etwa indem man einen türkischen Taxifahrer in Istanbul zeigt, der Schwäbisch spricht. Ich würde aber auch nicht aussparen, dass es in Europa nach wie vor auch Länder gibt - wie Serbien oder den Kosovo, in denen Massenmörder immer noch frei herumlaufen. Das sollte in dieser Komödie auch vorkommen. Billy Wilder würde so einen Film lässig drehen können. Ob allerdings Dieter Kosslick so einen Film drehen kann, weiß ich nicht.
Die Tageszeitung "Die Welt" hat Sie als "begnadeten" PR-Mann bezeichnet. Wenn Sie sich das Image-Problem der EU bei den Bürgern ansehen: Was ist falsch gelaufen bei der Vermarktung der EU?
Dass man die EU überhaupt nicht vermarktet hat. Und dass man immer nur das Allerschlimmste hört: Viele Politiker würden das dreifache Gehalt verdienen, Urwälder werden abgeholzt für Papiere, die dann doch nicht gelesen werden, es gibt Subventionsskandale. All dieses waren und sind die Themen, die die Diskussion über Europa beherrschen, nämlich Bürokratie, Politik und Subventionsbetrug. Für die Vermarktung der positiven Seiten hätten man bei diesen Hunderten von Milliarden im Etat mal ein wenig Geld finden müssen.
Was könnte man positiv verkaufen?
Europa steht für Unterschiede, dafür, dass in dieser Welt nicht alles gleich ist. Dass es nach wie vor einen Unterschied macht, ob Sie in einer Trattoria in Rom oder in einer Trattoria in Berlin sitzen, dass es an der Côte d’Azur anderen Fisch gibt als in Island. Aber klar, es gibt auch die negativen Seiten. Etwa die Sache mit den Lebensmitteln. Ich rede nicht über die Subventions-Auswüchse, die Butterberge oder die Milchseen und diesen Wahnsinn. Aber das Allerschlimmste, was man gemacht hat, war die Normierung der europäischen Lebensmittel. Das war ein Granatenfehler, weil es jeden betroffen hat.
Wie kommt's, dass sie sich so gut mit Lebensmitteln auskennen?
Ich esse täglich. Lebensmittel sind ja auch Überlebensmittel. Jeder Mensch sollte sich, gerade angesichts der Skandale, die es derzeit gibt, darüber bewußt sein, was er isst.
Was ist denn Ihr liebstes außerdeutsches, europäisches Gericht?
Mein liebstes Gericht ist nach wie vor eine Portion Spaghetti mit Tomatensoße.
Mit Fleisch oder ohne Fleisch?
Natürlich ohne Fleisch.
Sie sind Vegetarier?
Natürlich. Ich will doch nicht hintenan sein in dieser Bewegung. Wobei ich natürlich sagen muss, dass ich eine ethnisch-genetische Prädisposition habe: Ich komme aus Baden-Württemberg. Und da gibt es Maultaschen und Spätzle. Und das ist den Ravioli und den Spaghetti natürlich nicht sehr fremd. Meine schwäbische Küche ist vom Geschmack und von den Zutaten deckungsgleich mit der italienischen Pasta-Küche.
Stellen Sie sich doch einmal Europa im Jahr 2030 vor. Was wird ganz anders und viel besser sein als heute?
Ich vermute, dass sich bestimmte Dinge normalisiert haben. Bis dahin haben die Leute begriffen, dass die Unterschiedlichkeiten, die das Leben lebenswert machen, erhalten bleiben müssen. Was nützt mir ein internationales Filmfestival im Jahr 2030, wenn alle Filme gleich aussehen, die aus Europa kommen?
Aber wenn Sie sagen: Europa ist vor allem Vielfalt. Warum brauche ich dann die EU - die Vielfalt habe ich auch ohne den ganzen Integrations-Hickhack?
Wenn der Kapitalismus die vorherrschende Form des Warenaustauschs ist, die dann zu dieser Art von Globalisierung führt, war es geradezu hellseherisch, Europa zu gründen. Das hat viel mit Solidarität zu tun, damit, dass die reichen Länder den ärmeren Ländern etwas geben sollen. Irland und Griechenland wären ohne die europäischen Gelder wirtschaftlich längst noch nicht so weit.
An der EU wird immer bekrittelt, dass Personen fehlen, die Europa repräsentieren, Figuren, an denen man sich reiben oder mit denen man sich identifizieren kann. Wer ist aus Ihrer Sicht der perfekte europäische Filmstar?
Das haben Brüssel und Straßburg mit der Film-Community gemeinsam: Auch wir haben das Problem - im Gegensatz zu Hollywood, dass wir unsere Stars erstmal als europäische Stars bekannt machen müssen. Europäische Stars sind derzeit immer nationale Stars. Natürlich gibt es einige über die Grenzen hinaus bekannte Stars wie zum Beispiel Gerard Depardieu oder Catherine Deneuve, und es ist kein Wunder, dass ich mit Frankreich beginne.
Welche Eigenschaften hat der perfekte europäische Super-Star im Jahr 2030?
Das wird nach wie vor ein Star sein wie Sophia Loren oder Claudia Cardinale, wie Hildegard Knef oder Romy Schneider. Physiologische Besonderheiten wird es keine geben. Die Frage ist eher, wie der Film dann aussehen wird. Ob es den Film überhaupt noch gibt.
Sind Sie da so skeptisch?
Die technologische Entwicklung schreitet voran. Jeder kann demnächst zu Hause seine eigene Berlinale veranstalten, wenn das so weiter geht. Trotzdem glaube ich natürlich, dass es den Film weiter geben wird - aber vielleicht eher als ein Marketing-Instrument für andere Audio-Visionen. Auch die Festivals werden eine differente Rolle zu spielen haben. Ohne Stars wird es freilich auch dann nicht gehen.