"Maluco", flüstern sie, abends, wenn das Licht erlischt, "Maluco kommt." Dann liegen sie steif in ihren Stockbetten und ängstigen sich. Maluco ist ein verrückter Geist aus Afrika. Alle schaudern, wenn irgendjemand Maluco ins Friedensdorf nach Oberhausen beschwört. Denn alle Kinder auf der Welt erzählen sich gern Gespenstergeschichten, ob sie aus Angola kommen, Afghanistan oder Usbekistan. Und alle im Zimmer gruseln sich, denn sie sind noch ganz klein.
Aber sie sind auch schon sehr tapfer, mit ihren ziependen Wundnähten, juckenden Verbänden, Schrauben in den Knochen, künstlichen Darmausgängen.
Manche machen noch in die Hosen. Die anderen wissen schon, auf welche der beiden Toiletten sie gehen müssen: Hepa - oder nicht Hepa. Gemeint ist Hepatitis. Sie sollen einander nicht anstecken. Und sie wissen auch, dass sie den anderen nicht auf den Teller greifen dürfen und dass jeder seinen eigenen Zahnputzbecher hat. Dass sie sich die Hände waschen müssen, damit die Würmer nicht kommen, die im Popo jucken. Nazima weiß außerdem, wie man einen Verband abrollt, mit einem Spachtel Salbe aufträgt, das Bein wieder umwickelt und die Schiene anlegt. Die Kinder im Haus Nummer eins sind alle schon ganz groß, obwohl sie die jüngsten sind im Friedensdorf.
Ein Netz von fast 300 Kliniken
Seit 37 Jahren fliegt das "Friedensdorf International" verwundete, verstümmelte, verletzte, verbrannte oder verwachsene Kinder aus mehr als 40 Kriegs-, Krisen- und Armutsgebieten dieser Welt ins Ruhrgebiet. Inzwischen hat der Verein ein Netz von fast 300 Kliniken in ganz Deutschland, Österreich und den Niederlanden geknüpft, deren Direktoren und Ärzte die Kinder trotz Gesundheitsreformen und Fallpauschalen kostenlos behandeln.
Während sie auf die Operation warten oder aber sich von ihr erholen, wohnen die Kinder in dem "Friedensdorf" am grünen Rand von Oberhausen. Eine Ansammlung schlichter, dünnwandiger Bungalows aus den sechziger Jahren. Kleine Räume, keine Schränke, Linoleum, alles spartanisch. Ein karges Sanatorium kleiner Kriegsveteranen. 150 Bewohner zur gleichen Zeit, 1000 verteilt auf das Jahr. Für jedes Kind ein Krankenhaus. Logistische Meisterleistung. Elisa aus Angola ist noch keine drei, Musa aus Afghanistan mit 14 respektierter Dorfältester. "Tausend Kinder, das ist mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein", sagt Freibettenkoordinator Helge Schreiber.
SPENDEN
Die Fotografin Brigitte Kraemer hat über Monate die Kinder des Friedensdorfes Oberhausen begleitet. Daraus ist der Bildband "Friedensengel" entstanden, erschienen im KlartextVerlag. Die Überschüsse aus dem Verkauf des Buches kommen dem Friedensdorf zugute. Wenn Sie den Kindern Geld spenden wollen: Stiftung stern, Hilfe für Menschen e.V., Deutsche Bank Hamburg, BLZ: 20070000, Kontonummer: 4699500. Stichwort: Friedensdorf.
Siebenjährige Gesichter wie geschmolzenes Blei, Krater, wo Ohren waren oder Nasen, ein Stumpf aus dem Anorak zum Gruß gereicht - kleine Monster in der ersten Schrecksekunde. Im nächsten Augenblick liebenswürdig quirlige Geister, die sich sofort über jeden Erwachsenen hermachen, der sich zu ihnen auf die Bank setzt. Entschlossen erklimmen sie ein Bein, gierig nach einem Schenkel, auf dem sie rittlings triumphieren können. Sie schmiegen sich an, schubsen einander vom erbeuteten Schoß, ziehen sich wieder hinauf. Ein Zerren am Hemd, ein Griff nach der Hand, give me five mit zwei Fingern. Der offensive Charme der Monsterchen verscheucht Beklommenheit.

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Ein quirliger Quasimodo mit Sturzhelm
Balbina ist sechs; "die Kuh", so stellt sie sich selbst vor, wegen der Blesse auf ihrer Stirn. Nach einer schweren Verbrennung ist ihr dort nur pigmentfreie Haut nachgewachsen. Isaac aus Angola: sieben, quirliger Quasimodo mit Sturzhelm, das erste Glasauge hat er zerbissen, das zweite aus dem Autofenster geworfen, das nächste bekommt er erst, wenn er alt genug ist.
"Geht's gut?", fragt er und schüttelt jedem höchstpersönlich die Hand. Ismael aus Afghanistan: Seine Verbrennungen waren drei Jahre alt, als er als Achtjähriger nach Oberhausen kam. Die Vernarbung hatte das Gesichtsgewebe so zum Hals herunterge-zogen, dass sich aus dem aufgezerrten Mund der Speichel ergoss. Die Helfer hielten ihn für taubstumm. Aber seine Seele hatte nur in einem dunklen Loch gelegen. Weil kein anderes Stück Haut an Ismaels Kinn halten wollte, hat ihm der Arzt dort Kopfhaut angenäht, wegen ihrer Fettschicht besonders flexibel. Wenn er dereinst ein Mann sein wird, dürfte der Bart, den er heute schon trägt, niemandem mehr auffallen. Denn Ismael gehört zu den Kindern aus Afghanistan.
So wie Sardar, der, wenn er umherlaufen will, immer erst jemanden finden muss, der ihn an die Hand nimmt. Die Granate, die Sardar in Jalalabad die Hand abriss, hat auch sein Augenlicht genommen. Salome weint, die Tränen rollen. Dabei ist sie so hübsch zurechtgemacht mit ihrem Bändchen im Pferdeschwanz und ihrem schicken Kleidchen. Die Kiefer-Gaumen-Spalte kann man schon nicht mehr sehen. Das kaukasische Mädchen ist heute aus dem Krankenhaus entlassen worden. Bei den Stationsschwestern war Salome noch Prinzessin gewesen. Hier ist sie eine unter vielen, deren Name die Erzieherin erst ein- mal in der Liste suchen muss. Endlich, es findet sich eine abgegriffene Puppe aus dem Papp- karton, Salome drückt sie an die Wange - lieb haben ist fast wie lieb gehabt werden.
Auf dem Tagesprogramm steht Rollstuhlrennen
Eine Tischtennisplatte, ein Kicker, Kieselsteine zum Murmeln - das Angebot an Spielzeug ist begrenzt. Auf dem Tagesprogramm steht Rollstuhlrennen, zwei sitzen drin, hinten hängt der Steuermann, und dann Schussfahrt. Drachen steigen lassen, Papierflieger basteln und - eigentlich wegen labiler Knochen verboten - Fußball. Mädchen stecken ihre Köpfe über dem aus irgendeinem Krankenhaus mitgebrachten Barbie-Prospekt zusammen. Ein sehnsüchtiger Blick in ein unerreichbares Paradies.
2,5 Millionen Euro gehen jährlich an Spenden ein, 200 freiwillige Helfer unterstützen das Dorf, rund um die aufnahmewilligen Kliniken haben sich Freundeskreise gebildet, welche die Kinder regelmäßig besuchen. An 17 Orten weltweit hat der Verein gemeinsam mit lokalen Helfern Ambulanzen aufgebaut, dort werden die leichten Fälle behandelt. Die schweren fliegt der Verein aus, allein das kostet ihn ein Viertel der Spendengelder. Eine Großspende des Lions-Clubs schaffte den Grundstock für die Finanzierung neuer Wohngebäude, die jetzt bezogen werden. Die größten Unterstützer aber bleiben die Krankenhäuser dank ihrer kostenlosen Behandlung.
Das Friedensdorf ist kein Kurheim für verletzte Seelen. Es ist ein Umschlagplatz für zerstörte Körper, es nutzt die Hilfsbereitschaft von Medizinern und Kliniken, um die Ärmsten der Armen als "special guests" am für sie unerschwinglichen Fortschritt der Reichen teilhaben zu lassen. Wie Madinah aus Afghanistan. Ihr kleiner Bruder war mit einem gefundenen Spielzeug stolz zur Mutter gerannt. Da fauchte eine Feuerwalze durchs Lehmhaus. Das Spielzeug war eine Mine.
Schmerzen bis zum Wahnsinn
Schmerzen bis zum Wahnsinn, von versengter Haut und geschmolzenen Gliedern, brennend bei jeder Berührung, pochend und endlos quälend von Eiter und Fäulnis. Drei Monate musste die zehnjährige Madinah die Schmerzen ertragen, bis ein Flugzeug sie nachts auf ein Rollfeld in Deutschland brachte. Blaulicht, gelbe Autos, rote Jacken, weiße Kittel. Und dann: festgeschnallt auf einer Trage von Männern mit Latexhandschuhen, aufgewacht unter Kacheln und Monitoren. "Wir müssen für sie wie Außerirdische gewesen sein", sagt Georg Weimer, Chefarzt der Unfallchirurgie am St. Elisabeth-Krankenhaus in Neuwied.
Fast neun Stunden lang haben gleichzeitig fünf Ärzte und drei Schwestern die vereiterte Blutkruste, die das ganze Gesicht überzog, vom Fleisch genommen, Augenlider gelöst, neue Haut aufgelegt und Fingerglieder amputiert. "Madinah hatte seit dem Unfall die Augen nicht schließen können, es gab keine Fingerstrukturen mehr, die Hände schwammen im Eiter," sagt Georg Weimer. "Als sie bei uns eintraf, waren wir geschockt - das übertraf den schriftlichen Befund aus Afghanistan um ein Vielfaches."
Jetzt trägt Madinah saubere Verbände, liegt in weißen Laken und schaut sich das deutsche TV-Kinderprogramm an. Die Hautplantate halten trotz der verschleppten Infektion, und der Chirurg scheint selbst kaum zu fassen, welches Wunder in seinem Operationssaal geschehen ist. Zum Schutz von Wunden und Seele haben sie Madinah die ersten Tage ins Koma versetzt. Und noch immer verlangen multiresistente Keime eine Isolation. Aber hinter der großen Glasscheibe ist das Stationszimmer, dort stehen die Krankenschwestern mit ihrem Lächeln. Unfallchirurg Weimer war mehrfach in Ländern der Dritten Welt im Einsatz, während seines Urlaubs. "Jeder ist als Arzt einmal mit hochherzigen Vorstellungen angetreten", sagt er. Hier aber stieß er schon bald auf das, was man "Rahmenbedingungen" nennt. Umso mehr freut ihn, außerhalb der Grenzen des Kassensystems Operationen wie an Madinah durchführen zu können. "Unsere Klinik kostet das viel Geld."
Singen ist eine gute Medizin gegen das Heimweh
Schlimmer als der Geist Maluco ist das, wofür die Kinder im Dorf kein Wort haben. Das ist etwas im Bauch und im Kopf und überall, das tieftraurig macht. Wenn dieses Gefühl sie überfällt, weinen sie. Dann nehmen die Großen die Kleinen in den Arm. Dann kriechen sie zueinander unter die Decken. Singen ist eine gute Medizin gegen das Heimweh. Die angolanischen Kinder singen ein Lied aus Afrika, von Mama und Papa. Die anderen summen. Es wirkt bei allen.
Die Betreuer sind herzlich - und zugleich von professioneller Distanz. Denn die insgesamt 40 Erzieher, Krankengymnasten, Köche, Zivildienstleistenden dürfen von den Kindern nicht allzu sehr ins Herz geschlossen werden. "Man darf nicht zum Vater werden, auch nicht zum Onkel", sagt Naseem Bergau, ehemaliger Zivi, "darauf werden alle geschult." So karg, wie das Friedensdorf ausgestattet ist, so nüchtern soll es auch zugehen im Verhältnis zwischen Kindern und Betreuern. Das ist Konzept. Denn alle, die hierher kommen, sollen zurückreisen wollen.
Naseem Bergau war zuerst bang, er hatte zuvor nur im Bildungsbereich gearbeitet, in Seminaren für Konfirmanden und Schulklassen. Aber dann erlag auch er dem Sog der vom Schicksal so Gezeichneten. "Nicht zu vertraut machen", hat er oft gedacht, "das ist gefährlich für uns beide. Es kommt der Tag der Abreise."
Keine falsche Sentimentalität! Das ist die Regel des Dorfes
Keine falsche Sentimentalität! Das ist die Regel des Dorfes. "Wenn die Kinder kein Heimweh hätten, wenn sie gar lieber hier blieben, dann hätten wir etwas falsch gemacht", sagt Wolfgang Mertens. Als Öffentlichkeitsarbeiter des Friedensdorfes weiß er, auf welche Skepsis diese Strenge bei Außenstehenden meist stößt. "Nach den Vorstellungen der UN hingegen ist das, was wir tun, nämlich Kinder ohne Begleitung der Eltern hierher zu holen, ein unmenschlicher Akt."
Natürlich könnte man Pflegefamilien finden, aber: "Wir dürfen die Kinder nicht von der Zuneigung deutscher Familien abhängig machen." Zu schnell schleiche sich der Gedanke ein, ob die Kinder nicht besser in Deutschland blieben. Doch wer einmal die Wiedersehensfreude in der Heimat erlebt habe, der wisse, dass nichts geschehen darf, was die Kinder dazu verleiten könnte, ihre Eltern zu vergessen.
Diese Haltung verlangt gerade von den freiwilligen Helfern enorme Disziplin. "Wir haben ja auch eine Seele da drin", sagt "Dicker Bauch". So nennen die Kleinen Kurt Zander, der so riesengroß ist und gemütlich rund. Seit Jahren besuchen seine Frau Erika und er die Kinder in Krankenhäusern und im Dorf, fahren sie oft zu Arztterminen.
"Er kann gehen! Er kann gehen!"
Zum Beispiel Isaac. Sechs Stunden musste er einmal nüchtern auf die Behandlung warten. "Kurt", sagte Isaac, "will nach Hause, dicke Wurst." Die hatte ihm das Ehepaar gelegentlich spendiert. Maricio, der wegen der Pilze in der Luftröhre nicht sprechen konnte, Alcedes mit dem offenen Rücken: Wie lange haben Kurt und Erika am Bett der beiden gesessen. Nelson, der sagte: "Ich habe so gewartet." Emanuel mit der Sichelzellen-Anämie. "Kurt", sagte er immer, "Schulter reiten." Und diese glücklichen Momente: die ersten Schritte von Floh. Was für eine Freude im Dorf! Alle riefen: "Er kann gehen! Er kann gehen!"
Dann war da noch Manongo, der erzählte, dass er zusehen musste, wie seine Mutter erschlagen wurde. Dass man in Deutschland mit Wasser den Fußboden reinigt, diese Verschwendung konnte der Junge nicht fassen. Fauliges Obst, verrostete Dosen, alte Zahnbürsten, alles hat er in Oberhausen in seinem Rucksack gesammelt.
Von jedem Kind haben Erika und Kurt Zander ein Bild im dicken Fotoalbum. An jedes Kind so viel Herz verloren. Nie haben sie eines mit nach Hause genommen. Die beiden respektieren die Regeln. Fremde Leute sprachen sie auf Ausflügen an: "Behalten Sie den Kleinen doch." Aber: "Eltern das Kind wegnehmen", sagt Kurt Zander, "das kann niemand tun." Etwas anderes aber schmerzt. Dass sie nie erfahren werden, was aus den kleinen Strolchen geworden ist.
"Hand kaputt, nicht gut. Abmachen"
Im Friedensdorf unterhalten sich die Kinder mit ihren kleinen Landsleuten in der Muttersprache - und mit den anderen in stocherndem Deutsch. Dann sagen sie zueinander: "Sieht nicht schön aus ohne Auge, besser reinmachen." Oder: "Miriam, nicht auf einem Bein gehen, schöner ist Roller." Sie sagen auch: "Hand kaputt, nicht gut. Abmachen. Prothese besser." Jedes Kind erfährt, dass es nicht als Einziges gezeichnet ist.
Mit den Eltern schließt der Verein einen Vertrag, der bei der Einreise vorgelegt wird. Die Heimatländer geben eine Rückkehrgarantie ab, die Bundesrepublik erteilt eine begrenzte Aufenthaltserlaubnis. Eine Tochter ohne Begleitung eines männlichen Verwandten reisen zu lassen ist für islamische Familien auch ein Akt der Verzweiflung - und zugleich ein Beweis des Vertrauens.
Fünf Regime in Afghanistan hat das Friedensdorf mit diesen Regeln durchgestanden. Selbst die Taliban, die alles fürchteten, Mädchenschulen, Spiele, Musik, Puppen und Stofftiere als verbotene Abbildungen von Lebewesen, selbst sie haben die Kinder ausreisen lassen. Aber nicht jedes Verbot islamistischer Fanatiker verfolgt die Kinder bis ins Ruhrgebiet. Das Mädchen Fariba war nur noch verbrannte Haut über fleischlosen Knochen, war in einem Verschlag auf 13 Kilogramm heruntervegetiert. Jetzt flaniert sie gern wie zufällig dort vorbei, wo Musa steht. Wenn die Sonne durchbricht, fläzt sich auch Musa neben die Mädchen auf die Bank, und aus seinem Cassettenrecorder scheppert indische Filmmusik. Ob Tradition oder Religion - Pubertät keimt durch jede Versteinerung. Die Mädchen sind Publikum an der Tischtennisplatte, wenn Musa bei seinen Aufschlägen den Ball anschneidet. Das fordert Geschick, wenn man keine Hände hat.
Aus dem Rest eine Klaue gemacht
Nur ein zerfetzter Rest hing noch blutig an Musas Schultern, damals, vor drei Jahren, als der Junge nahe der afghanischen Stadt Mazar-i-Sharif Holz gesammelt und in die Mine gegriffen hatte. Die Ärzte in Deutschland haben das, was noch von den Schultern hing, in einem Fixteur gestreckt, sodass ein Knochen nachwuchs, langsam, nur sehr langsam. Sie haben aus dem Rest von Elle und Speiche eine Klaue gemacht, mit der er greifen kann. Musa hat gelernt, einen Stift zu halten, damit malt er Buchstaben, perspektivische, wie auf Kinoplakaten. Er übt viel. Denn irgendetwas müsse er ja beherrschen, wenn er wieder nach Afghanistan zurückkehre, sagt Musa. Er hat auch nach Hause geschrieben: "Mir geht es gut. Ich habe viele Freunde." Und einmal einen Brief bekommen, von seinem Vater. Seine Mutter kann nicht schreiben. Sie knüpft Teppiche. Seine Schwestern dürfen jetzt vielleicht schreiben lernen, nachdem die Taliban von der Macht verjagt worden sind.
Juki, die Praktikantin aus Japan, schimpft mit dem kleinen Vahe aus Armenien. Der Strolch wollte wieder Hasen jagen, Pilze suchen - keiner ist so schwer zu hüten. "Seit zwei Monaten habe ich die Kinder endlich im Griff", sagt sie in fließendem Deutsch. Anfangs hatte Juki vor Erschöpfung geweint. "Die Kleinen können wie Teufel sein."
Immer wieder kommen Praktikanten wie Juki aus Japan, leben zu fünft in einem Zimmer, nur um im Friedensdorf zu helfen. Es ist berühmt in Japan. Das verdankt es der beliebten Schauspielerin Chizuru Azuma. Die Macher einer japanischen TV-Sendung, bei der Prominente vor schwierige Aufgaben gestellt werden, schickten Chizuru Azuma auf ei- ne Reise an einen besonderen Ort in Deutschland. Die Schauspielerin erwählte das Friedensdorf. Und erlag sogleich dem Charme der monströsen Kinder. Sechsmal ist sie schon wiedergekommen, immer begleitet von Kamerateams. Deshalb sind die Waschmaschinen des Heims eine Spende von Miele Japan. Deshalb strömen so viele Yen auf das Spendenkonto. Deshalb kommen Praktikanten, um an etwas teilzuhaben, das es in Japan nicht gibt.
Wenn die Praktikanten verzweifeln, hilft eine resolute Vietnamesin
Wenn die Praktikanten verzweifeln, hilft Hong. Hat die resolute Vietnamesin Dienst, sitzen die Vereinten Nationen der Kinder am Esstisch still, auch wenn der Vertreter Angolas dem Georgiens noch schnell im Ohr pult. Gerade hat die energische Frau sieben Rabauken bei einer Rauferei erwischt. Jeden hat sie sich einzeln geschnappt. Die kleinen Halbstarken haben ihre Meisterin gefunden und wischen nun Tische und fegen den Boden - jeder ist beleidigt, und alle sind darin solidarisch.
Hong ermahnt: "Jacke zu!", "Nicht auf den Boden legen!" Oder: "Hilf deinem Nachbarn, die Pellkartoffeln zu schälen. Er hat keine Hand." Sie wird streng: "Warum holst du jemandem die Schuhe? Nein! Die Kleinen bedienen hier nicht die Großen."
Wenn sich die Patienten auf die Bank vor dem kühlen, gekachelten Keller der Reha drängeln, ist Doktor Meier da. Drei Vormittage die Woche kommt der ergraute Arzt und sagt: "Na, Abdul, mein kleiner Fußballstar." Oder: "Das sieht gut aus." Dann diktiert er dem Zivildienstleistenden Benjamin den Befund: "Gut abgeheilte Verbrennungsnarben, Beweglichkeit des rechten Handgelenks ausreichend. Vierter und fünfter Finger sind vollständig verloren."
70 Prozent der afghanischen Kinder leiden unter Knochenfraß
Amputierte Beine, Narben wie Reißverschlüsse; Ursache ist allzu oft Osteomyelitis, eine tückische Knochenentzündung. Eine Verletzung an der Knochenhaut oder irgendwo Bakterien im immunschwachen Körper, die über den Blutweg zum Knochen gelangen - und Schmerz und Siechtum sind ohne Halt. 70 Prozent der afghanischen Kinder im Friedensdorf leiden unter dem Knochenfraß, den es in Europa zuletzt nach den zwei Weltkriegen gab. "Bitter sind die Momente", sagt Hans-Egon Meier, "in denen ich Kindern sagen muss, dass niemand ihre Verletzung heilen kann."
Wann aber, fragt sich der Arzt, der selbst zwei Bypass-Operationen hinter sich hat, werde er mit seiner Kraft am Ende sein? Seit 13 Jahren kommt der 76-Jährige ehrenamtlich ins Dorf. "Ich finde keinen Nachfolger."
Das Schönste, was Meier in seiner Patientenkartei notieren kann, lautet: "R-Kind!" Das steht für Rückreise. Sie ist immer ein großes Fest. Am Abend vorher wird im Speisesaal noch einmal zum Cassettenrecorder getanzt. Diesmal fliegt Balbina, und auch Isaac muss Abschied nehmen vom Gameboy, für den die Eltern nicht einmal die Batterien bezahlen könnten, Abschied nehmen von Hong, Kurt, Erika, Juki und all den anderen. Jedes Kind trägt bei der Abreise einen der schicken Trainingsanzüge, die Esprit gespendet hat. "Jacke in Angola verkaufen, fünf Euro", sagt Isaac. Zöpfchen geflochten, Schleifchen gebunden, Kinder wie aus einem Modekatalog - mit kleinen Fehlern.
Nach einem halben Jahr ein großes Fest
Wenn ihr Flugzeug wieder nach Düsseldorf zurückkehrt, werden andere Kinder auf Tragen liegen, mit Gesichtern aus Lava-Schlacke, sie werden nach Blut, Eiter, Dreck und Fäulnis stinken, werden die Hände übereinander legen, um Schmerzen zu signalisieren, die Faust ballen als Handzeichen für Stuhlgang, einfache Gebärden, die sie auf dem Flug gelernt haben, auch für Durst, Hunger, Pinkeln. Zivildienstleistende werden kleine Krüppel auf Armen die Gangway heruntertragen. Frauen werden versuchen, mit Hilfe von Mimik und Tonfall zu vermitteln: "Du bist unter lieben Menschen, die dir helfen." Es wird ein guter Tag sein. Denn die Mitarbeiter des Friedensdorfes wissen, dass auch diese Kinder in einem halben Jahr ein großes Fest feiern werden.