GESELLSCHAFT Endlich, Daddy!

Wie die deutschen Zwillinge Robert und Thomas mit Unterstützung des stern zum ersten Mal ihren Vater in Amerika trafen - eine Familienzusammenführung der ganz besonderen Art. Aus stern Nr. 34/2001.

Am Tag vor dem großen Tag brennt die Sonne erbarmungslos vom Himmel, 42 Grad, 80 Prozent Luftfeuchtigkeit, und Dan Anderson hat beschlossen, das zu machen, was man in Fort Worth, Texas, an Sonntagnachmittagen wie diesem macht: Bier trinken und reden. Er sitzt in einem vollklimatisierten Schuppen, der »Rick's on the Bricks« heißt, bestellt kaltes Budweiser und sinniert über das Leben, das komische. Ein Schluck Bud, ein Blick auf die Flasche. »Weißt du«, sagt er, »als ich aus Deutschland wegging und zurückkam nach Amerika, konnte ich 18 Budweiser trinken und spürte nichts.« Damals staunten die Leute nicht schlecht über diesen massigen Burschen, der Bier wie Wasser trank.

Zwölf Jahre ist das her, und inzwischen spürt Dan das amerikanische Leichtbier wieder. Deutschland war irgendwann verdammt weit, und er dachte nur noch selten an dieses kleine Land in Europa mit den Autobahnen, den schrillen Bars von Frankfurt-Sachsenhausen, nicht weit von den Kasernen, mit dem starken Bier und den schönen Frauen. Einmal, vor Jahren, kam ein Brief aus Deutschland in Texas an, und darin stand, dass die Scheidung vollzogen sei von seiner Frau Ruth, wohnhaft in Dietzenbach, Hessen. Das war klar, nach so langer Zeit. Der Brief kam in die Ablage.

Deutschland war Vergangenheit, die US-Army war Vergangenheit, Ruth war Vergangenheit.

Ende Mai klingelte bei Dan Anderson, wohnhaft in Houston, Texas, das Telefon. Am anderen Ende meldete sich der stern. Und von dieser Sekunde an war Deutschland wieder nah. Dan Anderson, 35 Jahre, Handelsvertreter für medizinische Geräte, erfuhr an diesem Abend, dass er gesucht wird in Deutschland. Dass er vermisst wird in Deutschland. Dass er zwei Söhne hat, Robert und Thomas, Zwillinge, bald zwölf Jahre alt. Dass Robert mit dem Korrekturstift seiner Mutter Ruth, Lehrerin, in roter Schrift eine Flaschenpost-Botschaft geschrieben hatte, die mit vielen anderen Leser-Wünschen von Bord des stern-Schiffes »Starship« dem Meer übergeben wurde und in der stand: »Dass ich mit meinem amerikanischen Vater, den ich noch nie gesehen habe, nur fünf Minuten reden kann. Das ist mein größter Wunsch« (stern Nr. 21/2001: »Briefe an das Meer«). Roberts Herzenswunsch, hatte damals die Redaktion beschlossen, sollte in Erfüllung gehen.

Verblüffende Ähnlichkeit

Das alles erfuhr Dan Anderson an jenem Abend im Mai am Telefon, und das war ziemlich viel für den Moment, und er geriet ins Stottern und stritt erst alles ab, weil: »Wie reagierst du, wenn von einer Sekunde auf die andere dein Leben umgestülpt wird? Was ist, wenn sich einer nur einen dummen Spaß erlauben will?« Aber dann kamen Fotos von den Jungs, und die letzten Zweifel an seiner Vaterschaft verblichen unter dem allerersten Eindruck: Robert und Thomas Anderson sehen ihrem Vater verblüffend ähnlich. Kein Zweifel. Dan Anderson schrieb einen Brief: »Der stern hat mich darüber informiert, dass ihr mich

sucht, und ich habe Bilder von euch gesehen. Ich könnte nicht stolzer sein zu sehen, dass ihr beiden so toll geworden seid und, wie man mir sagte, auch so intelligent.» Dan Anderson beschloss, seine verlorene Familie nach Texas zu holen, für eine Woche in den Schulferien. Für den Anfang. Für den Beginn der Aufräumarbeiten von zwölf verlorenen Jahren.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Also sitzt er aufgekratzt im »Rick's on the Bricks« und sinniert über das Leben, das komische, nimmt einen Schluck kaltes Budweiser an diesem heißen Tag vor dem großen Tag - dem Treffen mit seinen Zwillingssöhnen Robert und Thomas, seiner Ex-Frau Ruth und seiner Stieftochter Jacklyn. Ankunft, 16.50 Uhr, Flughafen Dallas-Fort Worth. Es gibt kein Zurück. Das Mobiltelefon klingelt, sein Chef Richard Walsh, ein texanischer Multimillionär, dem Ranches gehören und Ölfelder und die Firma für medizinisches Gerät, will wissen, wie es ihm geht so kurz vor dem großen Tag. Dan sagt: »Ich bin ein nervliches Wrack.« Verdammt, wie wird das sein, nach zwölf Jahren?

Treffpunkt Frankfurt-Sachsenhausen

Ruth, Lehrerin, und Dan, US-Soldat, lernten sich 1986 in einem Irish Pub in Frankfurt-Sachsenhausen kennen. »She was the sexiest thing on earth«, sagt Dan. Sie verliebten sich, heirateten im Frühjahr 1988, Ruth wurde schwanger. Aber Dan begann zu zweifeln an ihr und allem, selbst an seiner Vaterschaft. Manchmal macht die Liebe wirklich blind und rasend. Es gab Streit, Eifersuchtsszenen, Dan sagt: »Ich war so verdammt jung«, gerade 24. Immer wieder Streit, Eifersucht, Streit. Eifersucht,

Zweifel. Und irgendwann ging er. Dan Anderson stieg am 9. Dezember 1989 in eine Militärmaschine in Frankfurt und flog nach Amerika. Zwei Tage später brachte Ruth Anderson die Zwillinge Robert und Thomas zur Welt und von nun an allein durch. Deutschland war weit. Bis zu jenem Abend im Mai, als das Telefon klingelte.

Dan hat sich freigenommen, sieben Tage, nach sieben Jahren ohne Urlaub. Er will ein prima Vater sein für Robert und Thomas, die er zurückließ vor zwölf Jahren. Die mit sechs die Mutter zu fragen begannen nach dem Vater, von dem nur ein einziges Bild existierte, Dan in schnieker Uniform. Die Mutter, die nie schlecht über ihn sprach, aber meistens gar nicht, weil er einfach nicht da war, für sie, die Jungs und Jacklyn, Tochter aus erster Ehe. Die sich nicht anmerken ließ, dass sie ihn am liebsten erwürgen wollte, als er Ende Mai endlich anrief und die Jungs zu heulen begannen am Telefon und Dan zu heulen begann drüben in Texas. »Ich habe die ganze Zeit mit seinen Abziehbildern gelebt, und dann ruft er an ?« Robert dachte, sein Papa wäre Cowboy, sein Bruder Thomas, vier Minuten jünger, dachte, der Papa wäre Geschäftsmann. Ruth fragt: »Was sollte ich ihnen schon erzählen?«

Flughafen Dallas-Fort Worth

Flughafen Dallas-Fort Worth, Gate 37, 17.56 Uhr, Verspätung. Dan trippelt nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hat eine Stretch-Limousine gemietet für die Familie, so eine wie im Film. Alle sollen wissen, dass sie in Amerika angekommen sind, und in Amerika ist alles größer. Robert und Thomas entdecken ihren Vater und stürmen auf ihn zu und fallen ihm um den Hals. Im Flugzeug hatten sie gefragt: »Wie sollen wir ihn nur begrüßen?«, und Ruth hatte geantwortet: »Macht es so, wie ihr

meint, dass es richtig ist.» Sie sagen schüchtern «Papa», aber ein paar Tage später werden sie «Dad» sagen. Dan nimmt sie in den Arm, er wirbelt sie durch die Luft. Er küsst die Jungs und schüttelt Ruth verlegen die Hand, umarmt die Stieftochter Jacklyn, 15 Jahre: «Du bist groß geworden. Und so hübsch.»

So beginnt diese knappe Woche am Flughafen von Dallas-Fort Worth. Eine Woche, in der Dan einen Vater gibt, den sich alle Jungs wünschen. Robert und Thomas dürfen all das tun, was sie in Deutschland nicht tun dürfen oder nicht können. Essen morgens zum Frühstück Hamburger, essen mittags Hamburger, abends Hamburger. Trinken morgens, mittags, abends Coca-Cola. Fahren Go-Kart mit Dan noch spätabends, werden überhäuft mit Geschenken. Mit Cowboyhüten und Cowboystiefeln, Jeans, Hemden, T-Shirts, Kappen, Trikots der Baseballmannschaft Texas Rangers. »Cool«, sagen die Jungs.

»Wir haben ihn wieder«

Alles ist cool in Texas, bis aufs Wetter. Sie fahren mit Dans Chef Richard durch die Weiten der texanischen Prärie, besichtigen ein Gasbohrloch. Einmal sehen sie ein Baseballspiel der Texas Rangers live, tags drauf daddeln sie in der weltberühmten Honkey-Tonk-Bar »Billy Bob's« bis in die Nacht an Videospielen herum. Sie gehen schwimmen, essen, einkaufen und ins Museum. Und sie stellen keine Fragen, warum ihr Vater ins Flugzeug stieg, zwei Tage vor ihrer Geburt. Robert sagt: »Wir haben ihn doch wieder, das ist alles, mehr wollen wir nicht.«

Sie haben ihn wieder.

An einem Morgen erzählt Dan Anderson seinen Söhnen Thomas und Robert, dass er noch einen Sohn hat. Aus der zweiten geschiedenen Ehe. Der Sohn ist drei Jahre jünger und heißt Thomas-Robert. »Ist das nicht irre? Drei Söhne, zwei Namen.« Dan nennt das eine Fügung, Schicksal, Vorsehung. »Ich wusste doch nichts von den Boys drüben.« Dan lacht. Ruth lacht nicht. Sie nennt das ein Märchen und Unfug. »Ich glaube das einfach nicht, natürlich kannte er die Namen der Jungs.«

Die Jungs finden die Geschichte ganz klasse, wie auch immer. Thomas-Robert und Robert und Thomas, ein amerikanischer Bruder, »cool« ist das. Ruth schüttelt den Kopf. Aber im Laufe der Tage kehrt auch Vertrautes zurück. Dan und Ruth haben sich einmal geliebt. Nachts, wenn die Kinder im Bett liegen, sitzen beide zusammen in seinem Apartment in Fort Worth und reden über früher. Über Fehler, über schöne Zeiten, über gemeinsame Urlaube, über den Streit, über verlorene Zeit, über Geld. Und über die Zukunft. Ruth sagt: »Er gibt sich alle Mühe, er ist toll zu den Kindern.« Das ist wunderbar - und schmerzt zugleich. Zwölf lange Jahre. Dan sagt: »Wenn ich gewusst hätte...« Pause. »...wäre doch nie weg aus Deutschland.«

Zwölf Jahre

Zwölf Jahre sind nicht aufzuholen in sechs proppenvollen Popcorn-Hamburger-Coca-Cola-Tagen. In so kurzer Zeit hat nur Gott die Welt hingekriegt. Einmal, über Hamburger und Pommes und Cola, sagt Thomas: »Du, Dad, ich bin stolz auf dich.« Und der wischt sich das Salzwasser aus den Augenwinkeln. »Stolz« auf den Papa, der erst zweifelte und dann ging. Zwölf Jahre. Dan sagt: »Eure Mutter hat einen guten Job gemacht, einen verdammt guten.«

Für Dan Anderson wiederholt sich die Geschichte. Robert und Thomas Anderson, Zwillinge, bald zwölf Jahre, haben ihren verlorenen Vater wiedergefunden, dank einer Flaschenpost-Botschaft, abgedruckt im stern und danach der See übergeben. Dan Anderson war Mitte 20, als er sich auf die Suche machte nach seinem verlorenen Vater. Der seine Mutter und die fünf Kinder verließ. Da war Dan so alt wie seine Zwillingssöhne heute und hatte bereits in 13 verschiedenen US-Bundesstaaten gelebt. Immer auf der Durchreise, immer im Windschatten des Vaters, der für die US-Rennsport-Serie Nascar arbeitete.

Frieden mit dem Vater

Wenn sich Dan an glückliche Tage in seiner Kindheit erinnert, dann zum Beispiel daran, dass er mit den beiden Kindern des berühmten Rennfahrers Mario Andretti im Garten spielte. Wenn sich Dan an weniger glückliche Tage seiner Kindheit erinnert, verliert sein Gesichtsausdruck an Fröhlichkeit. Manchmal sagte sein Vater: »Hey, Dan, verprügel mal den Nachbarsjungen dort.« Meistens bekam aber Dan auf die Schnauze, und dann war sein Vater enttäuscht, und Dan beschloss schon als Kind, dass er niemals so werden wollte wie sein Dad. Der eines Morgens ging und nicht mehr heimkehrte. Den er schließlich suchte nach seiner überstürzten Flucht aus Deutschland, weil er dachte: »Du hast so viele Fragen und keine Antworten.« Den er fand in San Antonio, Texas. Mit neuer Frau und neuen Kindern. Dan hat Frieden gemacht mit dem Vater, der sich entschuldigte für alles. Kurz bevor er starb.

Es ist nicht zu spät. Robert und Thomas haben ihren Vater gefunden; nicht weil sie so viele Fragen hatten. Sondern weil sie einfach einen Vater haben wollten. Sechs Tage, 144 Stunden, sind nicht viel. Aber genug für den Anfang. Es ist ein guter Anfang. Robert, den Cowboyhut auf dem Kopf, sagt kurz vor dem Heimflug: »Ich möchte hier bleiben«, und seiner Mutter stockt der Atem. Dann stehen sie am Gate, Flughafen Dallas-Fort Worth. Robert weint, Thomas weint, Dan weint, Ruth weint, Jacklyn weint. Dan Anderson ist jetzt dran. Er wird sie besuchen in Deutschland, das wieder ganz nah ist. Spätestens zur Weihnachtszeit. Und fast auf den Tag genau zwölf Jahre nach seiner Abreise. Er sagt: »Versprochen.«

Michael Streck / Fotos: Imke Lass / Mitarbeit: Rico Carisch, Regina Weitz