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Gesetzesvorhaben Wie müsste die Impfpflicht aussehen, damit sie vorm Verfassungsgericht besteht, Herr Boehme-Neßler?

Die Impfpflicht lässt sich nicht so einfach durchsetzen
Die Regierung möchte, dass die Impfpflicht im Frühjahr kommt. Aber es gibt einiges zu beachten.
© Fabian Sommer / DPA
Die Bundesregierung plant eine Impfpflicht. In einer ersten Orientierungsdebatte tauscht sich das Parlament über das Für und Wider aus. Der stern sprach deshalb mit einem Juristen über die rechtlichen Fallstricke.

Volker Boehme-Neßler ist Professor an der Universität in Oldenburg und beschäftigt sich unter anderem mit dem Verfassungrecht. Im Gespräch mit dem stern erklärt er, wann die Impfpflicht verhältnismäßig wäre und was der Unterschied zwischen einer Pflicht und einem Zwang ist. Zudem verrät er, welche Mittel die Impfquote mindestens genauso effektiv steigern könnten.

Herr Boehme-Neßler, vom ZDF wurden Sie mit den Worten zitiert, eine Impfpflicht sei verfassungswidrig, solange es "Wege zur Kommunikation" gebe. Was haben Sie damit gemeint?

Die Impfpflicht ist ein Eingriff in die Grundrechte. Den erlaubt die Verfassung aber nur in bestimmten Ausnahmefällen, er muss verhältnismäßig sein. Das heißt, es darf kein anderes Mittel geben, das milder ist, die Grundrechte aber nicht so drastisch einschränkt. Worauf ich hinaus wollte, ist die Kommunikation. Es gibt unzählige Studien zur Risikokommunikation, die belegen, dass und wie man Menschen ansprechen kann und muss, um sie zu einem bestimmten Verhalten zu bewegen.

Ich frage mich immer wieder: Warum hat sich die ehemalige Bundeskanzlerin nicht öffentlich impfen lassen? Warum hat sie ihre Ärmel nicht vor laufender Kamera hochgekrempelt und die Leute dazu aufgerufen, sich ihr anzuschließen? Das hätte eine unheimliche kommunikative Wirkung gehabt. Solange wir die kommunikativen Mittel nicht ausgeschöpft haben, dürfen wir keine drastischeren Maßnahmen einführen, wie etwa die Impfpflicht.

Was würde das im konkreten Fall bedeuten?

In Spanien liegt die Impfquote bei 90 Prozent, aber eine Impfpflicht stand nie zur Debatte. In Deutschland ist Bremen das beste Beispiel dafür. Man hat mit den Leuten gesprochen, sie aufgeklärt. Kommunizieren bedeutet, gezielt zu den Menschen zu gehen, die Angst haben oder verunsichert sind. Das kann man mit einem Impf-Bus machen, der in die Problemviertel fährt. Hilfreich sind auch Dolmetscher, die sich mit der Kultur einer Community auskennen und die Sprache sprechen. Eine andere Möglichkeit wären niedrigschwellige Impfangebote etwa im Supermarkt. Man muss die Impfung zu den Leuten bringen. Das passiert alles noch viel zu selten.

Sie haben zu Beginn des Gesprächs gesagt, dass die Impfpflicht verhältnismäßig sein muss. Wann wäre das der Fall?

Verhältnismäßig ist eine Maßnahme aus juristischer Sicht immer dann, wenn drei Punkte gegeben sind. Ist die Maßnahme, in diesem Fall die Impfpflicht, geeignet, um das Ziel zu erreichen? Gerade stellt sich die Frage, ob die Impfung gegen die aktuelle Virusvariante hilft. Ist das nicht der Fall, wäre eine Impfpflicht sinnlos.

Vor Omikron war das kein Problem, jetzt sehen wir aber unter anderem in Bremen, dass die Inzidenz trotz hoher Impfquote durch die Decke geht. Das ist ein Hinweis darauf, dass die derzeit verfügbaren Impfstoffe nicht ausreichend vor der neuen Virusvariante schützen. In diesem Fall ist eine Impfpflicht als Maßnahme nicht geeignet.

Und die beiden anderen Punkte?

Der zweite Punkt ist die Erforderlichkeit. Hierbei muss man sich fragen, ob es noch andere effektive Mittel gibt, mit denen die Impfquote gesteigert werden kann und gleichzeitig die Grundrechte geschont werden. Aus meiner Sicht wäre die Kommunikation das mildere Mittel. Der dritte Punkt ist die Angemessenheit. Sind es die möglichen Auswirkungen wert, die Bürger zur Impfung zu verpflichten?

Welche Auswirkungen meinen Sie?

Eine Impfpflicht könnte das Vertrauen in die politischen Institutionen schädigen und womöglich die Demokratie gefährden. Wie die Cosmo-Studie zeigt, ist das Vertrauen in die staatlichen Institutionen nach zwei Jahren geringer als vor der Pandemie. Das hat auch damit zu tun, wie die Pandemiepolitik funktioniert und wie chaotisch kommuniziert wurde. Eine aktuelle Studie besagt, dass nur zwei bis drei Prozent der Ungeimpften zu den ganz harten Impfgegnern gehören. Die werden wir nie überzeugen können. Alle anderen könnte man aber mit guter Kommunikation erreichen.

Die Politik argumentiert, dass wir mit der Impfpflicht Freiheiten zurückerlangen. Sie sagen, dass wir dadurch Freiheiten verlieren. Warum?

Es geht einerseits um das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Der Staat würde mit einer Impfpflicht in den Körper eingreifen. Ich meine damit aber nicht den Piks, sondern den Impfstoff, der in den Köper gebracht wird und das Immunsystem stimuliert. In der Verfassung steht: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das bedeutet, der Staat darf die Menschen nie zum Objekt machen. Die Impfentscheidung ist mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet. Niemand kann genau sagen, wie gut die Vakzine gegen Omikron wirken, welche Varianten noch auf uns zukommen und welchen Impfstoff wir dann brauchen.

Ob man sich impfen lässt, ist eine höchst persönliche und intime Entscheidung, und es gehört zur Menschenwürde, privat darüber zu entscheiden. Schreibt der Staat den Menschen die Entscheidung in dieser unsicheren und unübersichtlichen Lage vor, dann macht er sie zum Objekt. Außerdem ist im Grundgesetz die Glaubensfreiheit verankert. Jeder hat also das Recht, medizinische Behandlungen aus religiösen Gründen abzulehnen. Auch diese Freiheit wird eingeschränkt.

Worin besteht der Unterschied zur Masernimpfung? Die ist schließlich verpflichtend.

Was man auch kritisch sehen kann. Man muss dazu sagen, dass wir hier von einer indirekten Impfpflicht sprechen. Eltern können ihre Kinder nicht in die Kita geben, wenn sie nicht gegen die Masern geimpft sind. Es geht ansonsten aber um dieselben Grundrechte. Zudem gibt es das Erziehungsrecht der Eltern, ein wichtiges Grundrecht. Darunter fällt auch die Gesundheitspflege. Die nimmt der Staat den Eltern aus der Hand, wenn Kinder zur Impfung verpflichtet werden. Das heißt nicht, dass die Grundrechte nicht eingeschränkt werden dürfen. Aber die Verhältnismäßigkeit muss immer gewahrt sein. Und da habe ich Zweifel. Und bevor Sie einen falschen Eindruck bekommen: Ich persönlich bin ein großer Anhänger der Impfung. Aber worum es hier geht, ist, dass der Staat darüber entscheidet, ob ich mich impfen lasse oder nicht.

Kommen wir noch einmal auf die Verhältnismäßigkeit zurück. Eine Corona-Impfpflicht vor Omikron wäre unproblematisch gewesen?

Nicht wirklich. Man hätte auch vorher anders kommunizieren müssen. Aber im Sommer hat die Politik pausiert, Wahlkampf betrieben – und darüber die Impfquote vergessen. Man hätte schon damals die Impfquote durch Kommunikation erhöhen können, und deswegen wäre die Pflicht aus meiner Sicht auch damals ein unverhältnismäßiger Eingriff gewesen.

Rein hypothetisch gesprochen: Hätten wir das Mittel "Kommunikation" ausgeschöpft und das Ziel einer hohen Impfquote dennoch nicht erreicht, wäre dann eine saisonale Impfpflicht denkbar? Das Virus breitete sich ja bisher im Sommer weniger stark aus als im Winter.

Die Verfassung schließt die Impfpflicht nicht grundsätzlich für immer und ewig aus. Aber sie muss geeignet und erforderlich sein. Wenn wir davon ausgehen könnten, dass die Impfung die Pandemie beendet, dann wäre die Pflicht rechtlich durchsetzbar. Aber ob wir sie einführen können, ist von der jeweiligen Situation abhängig. Welche Impfstoffe stehen zur Verfügung, welche Variante kursiert, wie steht es um die Impfbereitschaft? Da gibt es noch viele Unbekannte. Nehmen wir an, im nächsten Winter kommt eine noch schlimmere Variante als Omikron, das Gesundheitswesen wäre überlastet, die Impfquote wäre niedrig und es gäbe einen wirksamen Impfstoff. Dann wäre eine Impfpflicht verhältnismäßig.

Dahinter steckt auch die Frage, was wir mit der Impfung erreichen wollen. Jens Spahn sagte, wir impfen uns aus der Pandemie. Dann wurde bekannt, dass die Impfung nur das Risiko für schwere Verläufe und den Tod reduziert, Geimpfte aber weiter ansteckend sind. Und mittlerweile will man nur noch einer Überlastung des Gesundheitssystems vorbeugen. Mit welchem Ziel würde man die Impfpflicht erfolgreich vor Gericht verteidigen?

Zu sagen, wir brauchen die Impfpflicht, um alle Menschen zu schützen und aus der Pandemie rauszukommen, wäre ein legitimes Ziel. Aber zu sagen, wir wollen, dass die einzelnen Menschen nicht richtig krank werden, wäre kein erlaubtes Ziel. Da wären wir wieder bei der Menschenwürde und der körperlichen Unversehrtheit. Dazu gehört auch, dass sich der Mensch entscheiden darf, ob er gesund lebt oder nicht. Man darf Kette rauchen, obwohl alle wissen, dass es ungesund ist. Wer will, darf die Impfung verweigern, obwohl es möglicherweise ungesund ist.

Und der Schutz des Gesundheitssystems?

Das wäre wiederum legitim, weil die Verfassung dem Staat eine Schutzpflicht für Leben und Gesundheit seiner Bürgerinnen und Bürger zuweist. Er ist verpflichtet, ein funktionsfähiges Gesundheitssystem zu gewährleisten. Gerade sehen wir, dass die Infektionszahlen zwar steigen, die Krankenhausbelegung auf den Intensivstationen aber zurückgeht. Wenn das Verfassungsgericht anhand der Daten befindet, dass Omikron deshalb das Gesundheitssystem nicht gefährdet, dann wäre eine Impfpflicht hierfür nicht erforderlich.

Worin besteht eigentlich der Unterschied zwischen einer Impfpflicht und einem Impfzwang?

Bei einer Pflicht wird von den Bürgern ein gewisses Verhalten verlangt, das im Gesetz festgeschrieben ist. Also das Gesetz fordert von den Bürgern eine Impfung. Hier unterscheidet sich die Rechtspflicht etwa von moralischen Pflichten. Die rechtliche Pflicht kann mit staatlicher Macht durchgesetzt werden. Selbstverständlich kann die Impfpflicht mit Zwang durchgesetzt werden.

Aber wie sieht es mit 2G aus? Für manche fühlt sich das schon sehr nach Zwang an.

Aus meiner Sicht ist das eine indirekte Impfpflicht. Die Umgebung wird durch 2G so gestaltet und Druck ausgeübt, dass ich mich impfen lasse. Kein Mensch kann sich bisher einen Impfzwang in letzter Konsequenz vorstellen. Das würde nämlich bedeuten, dass Sie von der Polizei abgeholt und zur nächsten Impfstation gebracht werden. Wenn aber jemand behauptet, mit der Impfpflicht sei kein Impfzwang verbunden, dann ist das Augenwischerei. Rechtlich können gesetzliche Pflichten (fast) immer mit Zwang umgesetzt werden.

Wie sieht es mit Bußgeldern aus?

Mit ihnen fängt die Durchsetzung an. Zwang folgt dem Steigerungsprinzip. Wir fangen mit einem milden Mittel an und werden dann immer strenger. Das Bußgeld ist der erste Schritt, wenn das nichts nützt, folgen schwerer wiegende Maßnahmen.

In der Debatte um die Impfpflicht geht es auch um die Frage, wie die kontrolliert werden soll. Aber ein Impfregister scheitert bisher am Datenschutz. Gibt es andere Lösungen?

Unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten wäre ein Impfregister in der Tat problematisch. Dann hätte die Verwaltung einen genauen Überblick darüber, wer wie geimpft ist. Das wäre ein massiver Eingriff in das Grundrecht auf informelle Selbstbestimmung. Wir stecken hier in einem Dilemma: Einerseits wäre das Impfregister ein so harter Eingriff in Datenschutzgrundrechte, dass es gar nicht umsetzbar wäre. Andererseits ist die Impfpflicht ohne das Register kaum zu kontrollieren. Man müsste dann auf Einzelfallkontrollen zurückgreifen. Ähnlich wie im Straßenverkehr, wo die Polizei stichprobenartig die Autopapiere kontrolliert.

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