Zwei Wahrheiten über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorweg. Erstens: Die Richter haben nicht grundsätzlich gegen die Hartz-Reformen geurteilt, sondern lediglich die Berechnungsgrundlagen für das Arbeitslosengeld II gekippt. Zweitens: Noch weiß niemand genau, wie viel das den Staat am Ende kosten wird. Doch die schwarz-gelbe Bundesregierung sollte sich darauf einstellen, dass die Grundsanierung der wohl folgenreichsten Sozialreformen der vergangenen 50 Jahre ein teurer Spaß werden kann. Das muss man wissen, um die politische Debatte richtig einordnen zu können.
Weil die Entscheidung so differenziert ausfiel, ist das Triumphgeheul der Linken kaum nachvollziehbar. Hat man etwa Katja Kipping am Dienstagabend im Bundestag zu diesem Thema reden hören, man könnte glauben, das Ende von Hartz IV sei nah: "Heute ist ein guter Tag", jubelte die stellvertretende Parteivorsitzende. "Es ist eine schallende Ohrfeige für alle, die Hartz IV mitgetragen haben". Postwendend forderte sie, quasi als logische Konsequenz aus dem Urteil, die Anhebung des Regelsatzes für Erwachsene auf derzeit utopische 500 Euro.
Schwarz-gelbe Projekte in Gefahr
Ebenso unverständlich ist jedoch auch die gelassen bis optimistische Stimmung in der Regierungskoalition. "Besonders freut mich, dass das Kind in seiner Gesamtheit in den Blick genommen wurde, mit all seinen individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten", sagte Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU). Dass zumindest die Anhebung der Sätze für Kinder beinahe unvermeidbar ist, lächelt die Niedersächsin weg.
Doch daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für die künftige Regierungspolitik. Zum einen: Woher nimmt die Koalition das Geld für die Anpassung der Regelsätze für Kinder? Entweder, Union und FDP müssen anderswo bei den Sozialleistungen sparen und ziehen damit den Zorn von Millionen Leistungsempfängern auf sich. Oder Schwarz-Gelb muss bei wichtigen Reformprojekten wie der geplanten Steuersenkung auf die Bremse treten. Schön wird das nicht.
Der allgemeine Mindestlohn kann helfen
Eine noch viel größere Gefahr für die Regierung Merkel geht von dem aus, was Juristen das "Lohnabstandsgebot" nennen. Es besagt, vereinfacht ausgedrückt, dass ein Sozialleistungsempfänger deutlich weniger bekommen muss als die Menschen in unteren Lohngruppen mit Erwerbsarbeit verdienen. Besonders kinderreiche Familien, in denen die Eltern arbeitslos sind, könnten nach dem Urteil von höheren Hartz IV-Sätzen profitieren. Darin liegt Sprengkraft für das gesamte Lohngefüge am Arbeitsmarkt, weil das Arbeitslosengeld II als eine Art Basis-Mindestlohn funktioniert: Jeder Deutsche mit festem Wohnsitz kann es beantragen. Und manche werden bald mehr bekommen, während die Reallöhne stagnieren. Wie erklärt das die Union ihrer eigenen Klientel, die sich an Slogans wie "Arbeit muss sich wieder lohnen" jahrelang erbaute?
Vielleicht, indem man doch noch einmal über die Einführung eines allgemeinen Mindestlohns nachdenkt. Schon bald nämlich könnte das als "Jobbremse" geschmähte Konzept dem Gerechtigkeitsempfinden in weiten Teilen der Union Genüge tun. Und die linken Parteien hätten einen Wahlkampfschlager weniger.