Kurz und knapp. So ist sie. Um 9.08 Uhr trat Angela Merkel ans Pult des Bundestags, um 9.42 Uhr war sie durch mit ihrer Rede. In den 34 Minuten dazwischen hat sie erklärt, wo es hingehen soll mit Europa: Die Europäische Union muss dafür sorgen, dass ihre Bürger mehr Geld in der Tasche haben - sonst kann man die Veranstaltung knicken, findet die Kanzlerin sinngemäß. Sie folgt so einer Philosophie, die ihr britischer Noch-Kollege Tony Blair schon im vergangenen Jahr lanciert hat: Sie setzt auf die Wirtschaftspolitik als identitätsstiftenden Motor, auf Wachstum dank erfolgreicher Unternehmen. Zudem macht sie Schluss mit bedeutungsschwangerer Rhetorik und spricht Klartext. Gerade deshalb war sie gut, Merkels erste europapolitische Regierungserklärung.
Es ist befreiend, dass Merkel sich nmit rührseligen, historischen Rückblicken Kohlscher Manier nicht zufrieden geben mag, wenn es darum geht, die Zukunft Europas zu begründen. Ja sicher, sagt sie, Europa hat viel geleistet nach dem zweiten Weltkrieg. Wir haben aufgehört, uns mit den Franzosen die Köpfe einzuschlagen. Und, ja, während des Kalten Krieges leuchtete Europa als Fackel der Freiheit. Das auch. Das war toll. Aber heute, heute genügt diese glorreiche Vergangenheit einfach nicht, um Europa, um die Europäische Union, zu rechtfertigen. Von den Menschen, von den Bürgern, ist das zu weit weg. Die wollen wissen, was ihnen der ganze Spaß bringt. Und deshalb, so darf man Merkel interpretieren, benötigt die EU eine neue Daseinsberechtigung, eine neue Firmenphilosophie, einen raison d'être.
"It's the economy, stupid!"
Merkels Firmenphilosophie ist einfach: Entscheidend ist, was hinten rauskommt. "Das A und O heißt wirtschaftlicher Erfolg", sagte die Kanzlerin am Donnerstag im Wortlaut. Es gehe um Investitionen in Bildung, Forschung und Innovation, um ein Clintoneskes "It's the economy, stupid" - so hat das Merkel nicht gesagt. Die Wirtschaft ist der Kanzlerin wichtig - in ihrer Rede war sie wichtiger als die Verfassung, wichtiger als die innere Sicherheit, wichtiger als die Erweiterung, wichtiger als die EU-Außenpolitik - auch, wenn sie diese Punkte alle brav abgearbeitet hat. Die EU, das ist das zentrale Argument der Kanzlerin, muss dafür sorgen, dass einzelne Bürger mehr Geld in die Tasche bekommen.
Sicher, wohlfeile Worte sind das. Und noch hat Merkel, die jenseits der nüchternen Analyse auch die Meisterin des Ungefähren ist, wenn es zu Entscheidungen kommt, noch hat sie keine konkreten Projekte genannt. Noch ist unklar, wie sie den so genannten "Lissabon-Prozess" beflügeln will, der Europa, so steht es zumindest geschrieben, global konkurrenzfähig machen soll. Anzulasten ist ihr das jedoch nicht. Erst im Januar 2007 übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr den Vorsitz der EU, setzt sich in Brüssel ans Steuerrad. Erst dann muss Berlin konkrete Pläne vorlegen. Deshalb ist es in Ordnung, dass Merkel im Bundestag lediglich skizziert hat, in welche Richtung es demnächst gehen soll.
Neu ist ihr Kurs nicht, Blair hat ihn letztes Jahr während seiner EU-Präsidentschaft skizziert, auch ist nicht klar, ob er sich in konkrete Politik gießen lässt, die über das Versprechen hinausgeht, Bürokratie abzubauen. Aber mit ihrem Augenmerk auf die Wirtschaftspolitik und den Lissabon-Prozess stellt sich die Kanzlerin schon einmal in die Reihe europapolitischer Liberaler, denen Wachstum zunächst wichtiger ist als eine europäische Sozialpolitik. Zwar formulierte Merkel vorsichtiger als Blair, zwar verdeutlichte sie, dass sich Europa an dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft orientieren muss. Eine Herzensangelegenheit - und das könnte ein Schwachpunkt ihrer Politik werden - ist ihr das nicht.
Die Verfassung kommt zum Schluss
Jenseits der praktischen Firmenphilosphie wollte Merkel mit ihrer Rede keinen großen Politikentwurf vorlegen. Getreu ihrem innenpolitischen Motto der Mini-Schritt-Politik wollte sie den Rahmen des Möglichen abstecken, des wirklich Erreichbaren. Das ist zwar nicht glamourös, dafür glaubwürdig - und europapolitisch ist Merkel damit bisher gut gefahren. Seit ihrem Amtsantritt hat die Kanzlerin viel Lob für ihr Auftreten in Europa geerntet, für ihre Rolle als Vermittlerin, für ihre Rücksicht auf die kleinen Mitgliedsstaaten. Diese neu verdiente Macht wollte sie auch an diesem Tag nicht durch Wirklichkeitsferne verspielen. Deshalb ist es bezeichnend, dass Merkel das Wort "Verfassung" erstmals um 9.31 Uhr erwähnte, damit lediglich das letzte Drittel ihrer Rede einleitete. Die EU-Verfassung - in den vergangenen Jahren immerhin das europapolitische Top-Thema schlechthin - hat für die Deutsche demonstrativ keine Priorität. Sicher, sie bekennt sich zur Verfassung. Und, ja, sie hält sie für wichtig. Und, ja, sie will sie vorantreiben. Aber damit ist es dann auch gut. Ein "Schnellschuss" wäre ein Fehler, sagte sie im Bundestag, er würde sogar Schaden anrichten. Erst einmal sollen die widerborstigen Franzosen und Niederländer im Mai 2007 wählen, dann kann man sehen, was wie machbar ist. Auch das ist ein kluger Schachzug der Kanzlerin. Sie rückt von der Verfassung rhetorisch und wohl auch praktisch nicht ab, knüpft aber werde den Erfolg der Europäischen Union noch den Erfolg ihrer Präsidentschaft an die Wiederbelebung des leidigen und komplizierten Verfahrens. Merkels Rede hat gezeigt, dass sie anderes im Sinn hat. Sie will Europa spürbar machen, am Besten im Portemonnaie. Bei näherer Betrachtung ist dieses Ziel noch ehrgeiziger, als jenes, die Verfassung zu verabschieden. Aber es ist das richtige Ziel. Merkel wird sich daran messen lassen müssen. Nach ihrer Präsidentschaft. Kurz und knapp.