Milieustudie So sind die Deutschen

Wie sie wohnen, wie sie denken, wie sie wählen. Früher gab es oben und unten, links und rechts und die Mitte. Heute zerfällt Deutschland in zehn Milieus. Der stern hat typische Vertreter besucht und sie fotografiert. Enträtselung eines kunterbunten Volkes.

Auf den ersten Blick stimmt noch alles. Die braune Eckcouch, die abgeschliffenen Dielen. Vor den Fenstern sattes Grün und die Ruhe eines Hamburger Vorortnachmittages. Hier also wohnt sie, die bürgerliche Mitte, das Schlachtfeld, auf dem Wahlen gewonnen oder verloren werden. Der Mainstream. Das deutscheste Deutschland. Vernünftig, vorsichtig, zielstrebig. Hier lebt Erwin Mustermann, der im Zweifel eher schwarz wählt. Der findet, dass Menschen, die mehr leisten, auch mehr verdienen sollen; dafür müsse die Politik mal sorgen. Und lieber nicht ganz so viel für Ausländer tun. Hier also wohnt der typische Vertreter der deutschen Mitte.

Er heißt … Tja, und da fängt es schon an, kompliziert zu werden. Der typische Vertreter der bürgerlichen Mitte heißt nämlich Alexander Stojimirovic. Ist 34 Jahre alt, Jurist, verheiratet, angestellt bei der Bundesagentur für Arbeit. Geboren und aufgewachsen in Deutschland. Seine Eltern sind in den 60er Jahren aus dem damaligen Jugoslawien eingewandert. Ach ja, CDU wählt er auch nicht. Er wählt SPD. Schon immer. Auch im September will er es wieder tun. Er hängt einfach an der Partei und seinen Vorstellungen von einer gerechten Welt.

Typisch deutsch? Typisch Mitte? Ja. Ausgerechnet Alexander Stojimirovic steht in all dieser scheinbaren Widersprüchlichkeit stellvertretend für fast zehn Millionen Deutsche, die das Heidelberger Sinus-Institut der bürgerlichen Mitte zurechnet. Verrückt? Nein, ganz normal im Deutschland des Jahres 2009.

Das neue Wahlchaos

Rätselhaftes Land. So bunt. Und so unberechenbar. Irgendwie ganz - undeutsch. So ganz anders als früher.

Früher war alles geordneter. Oben, unten. Rechts, links. Mitte. Die meisten Menschen wussten, wo sie hingehörten. Sie wussten, was sie zu wählen hatten. Die Arbeiter wählten mehrheitlich SPD, Landwirte die CDU, und wer als Rechtsanwalt oder Zahnarzt sein Geld verdiente, machte das Kreuzchen bei der FDP. Und heute? Arbeiter wählen mehrheitlich CDU. Auch arme Schlucker sympathisieren mit der FDP. Und selbst konservative Katholiken schrecken nicht mehr vor den Grünen zurück.

Der stern hat versucht, mithilfe der Sozial- und Marketingforscher vom Heidelberger Sinus-Institut ein wenig Ordnung in dieses Chaos zu bringen, das Land und seine Menschen im Wahljahr 2009 zu enträtseln: Wie sind sie? Was denken sie? Wie wohnen, wem vertrauen und was wählen sie? Es gibt dabei erstaunliche Zusammenhänge.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Viele Völkchen

Die Sinus-Forscher haben unter den Deutschen zehn Milieus ausgemacht. Sie heißen "Konservative" oder "Hedonisten", "Traditionsverwurzelte" oder "Moderne Performer". Wie Soziologen eben so reden. Ein Volk? Nein, viele Völkchen. Gruppen Gleichgesinnter, individuell verschieden und doch ähnlich. Sie teilen ähnliche Grundwerte, haben ähnliche Vorstellungen von Alltag, Arbeit, Familie, Freizeit oder Konsum - und oft auch ganz typische Wohnzimmer. Zugespitzt könnte man sagen: Zeig mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist. Und wen du wählst, theoretisch jedenfalls. Aber die Theorie ist bekanntlich grau - und die Realität ihr größter Feind.

Nehmen wir zum Beispiel Hermann Woesthaus. 56 Jahre alt, verheiratet, keine Kinder, Doppelhaushälfte am Stadtrand, Gesellschafter einer Firma für Konzerttechnik und auf dem Weg in den Ruhestand. Er macht jetzt lieber fünf-, sechsmal Urlaub im Jahr. Er kann es sich leisten. Woesthaus thront in einem blauen Ledersessel - mit kleinem Klapptisch, auf dem der Laptop liegt samt Headset, damit er bequem surfen kann oder den Fernseher fernbedienen, der versteckt in einem großen antiken Schrank steht. So sieht sie also aus, die Hochburg der Union, die Stütze von CDU und CSU, ein waschechter Konservativer.

Woesthaus sagt: "Ich habe früher nur CDU gewählt." Früher? "Inzwischen tendiere ich leicht zu Westerwelle und der FDP." Leicht? "Langsam frage ich mich, ob ich überhaupt noch zur Wahl gehe. Ich kann mein Kreuz machen, wo ich will - die machen ja sowieso, was sie wollen." Also gar nicht zur Wahl? "Na ja, vielleicht schon. Aber die Merkel, das kann man doch nicht wählen."

Sprunghafte Wähler

Verrückt? Nein, auch die Wankelmütigkeit ist längst normal, zum Leidwesen aller Wahlkampfmanager. Menschen wie Herr Woesthaus haben ihre Welt in den vergangenen Jahren gründlich durcheinandergewirbelt. Einfach war früher. Heute müssen sie sich immer häufiger fragen: Wer ist das eigentlich, unser Wähler? Und was, verdammt noch mal, will er denn jetzt schon wieder?

Schuld daran ist das Schrumpfen traditioneller Milieus seit Mitte der 70er Jahre. Aus der industriellen wurde die postindustrielle Gesellschaft, aus der grauen Masse wurden Individuen und aus Wählern scheue Rehe. Sie entscheiden sich immer spontaner und immer mal anders. Je nachdem, was ihnen gerade wichtiger ist: Niedrige Steuersätze? Gute Schulen? Hohe Renten?

Knapp 70 Tage vor der Bundestagswahl weiß etwa jeder Dritte noch nicht, ob er überhaupt wählen geht, und wenn ja - wen. "Die alten Bindungen werden lockerer", sagt Wolfgang Plöger vom Sinus-Institut, "das gilt für Parteien wie für Automarken."

Desaster für Demoskopen

Die Woesthausens dieser Welt machen auch die Demoskopen kirre. Wenn sie Menschen wie ihn anrufen und fragen, wen er wählen würde, sagt Herr Woesthaus ihnen mal FDP, mal CDU, mal: gar nicht. Obwohl er sich eigentlich noch nicht sicher ist. 2005 erlebten die Meinungsforscher deshalb erstmals ein Desaster. Noch nie hatten sie so kurz vor einer Wahl so danebengelegen. Zwei Tage vor Stimmabgabe hatten sie die Union bei Werten um 42 Prozent gesehen - 35,2 wurden es am Ende.

Wundersames Land. Wunderbares Land.

Auf einer Pressekonferenz am Tag danach saßen sie alle bedröppelt nebeneinander: die Chefs von Forsa, Infratest, Allensbach ... Sie sagten, der Wähler sei unberechenbar geworden, "launischer und leicht beeinflussbar". Er scheine "aus einem spontanen Bauchgefühl heraus" zu entscheiden. Das scheue Reh kommt spät erst aus dem Busch. Und keiner weiß, wohin es laufen wird. Seit der Europawahl weiß auch die SPD, dass sie sich besser nicht auf die schönen Vorhersagen der Demoskopen verlassen sollte.

Nur noch 30 Prozent der Wähler machen das Kreuz immer bei derselben Partei. Brave Stammwähler gibt es allenfalls noch im Milieu der "Traditionsverwurzelten". Meist ältere Menschen der Kriegsgeneration, das kleine Beamtentum, das klassische Arbeitermilieu. Bescheidene Leute, pflichtbewusst und ordentlich. Sie wählen, was sie immer gewählt haben. "Einen Lagerwechsel würden sie als Verrat an ihrem eigenen Leben empfinden", sagt Carsten Wippermann vom Sinus-Institut.

Früher SPD, heute CDU

Es muss also schon ganz dicke kommen, wenn Leute wie die Schaplinskis die Seite wechseln: Gertrud und Günter, beide Ende 60, beide Rentner, sie war früher Verkäuferin, er Schlosser. Heute gehen sie in den Kegelklub oder zum Sparverein, spielen Karten oder tanzen. Jetzt sitzen sie auf ihrer wild gemusterten Couch, links ein Püppchen auf der Lehne, rechts ein kleiner Teddybär und über ihnen ein Bild mit Boot im Sonnenuntergang. "Früher waren wir immer SPD", sagt Gertrud Schaplinski, "jetzt sind wir CDU, weil mein Mann sauer auf Herrn Schröder war." Weil der versprochen hatte, dass es für Leute, die 47 Jahre gearbeitet haben, keine Rentenabzüge geben werde. Gab es aber. "Also ich bin für Frau Merkel", sagt Frau Schaplinski. "Biste auch zufrieden?", fragt sie ihren Mann. Der sagt: "Ja."

Nur eines, das bereitet den beiden doch zunehmend Sorgen: diese Krise. "Ich habe Angst, dass es doch noch mal Inflation gibt", sagt Frau Schaplinski. Angst um die Rente. Angst, dass die Kinder ihren Job verlieren.

Keiner weiß, wie sich die Wirtschaft entwickelt, die Zahl der Insolvenzen, die Zahl der Arbeitslosen. Keiner weiß, wie die Menschen darauf reagieren werden. Wie es ihr Wahlverhalten beeinflusst. Ob es wieder zu einer "Schlussspurt-Dynamik" kommt wie schon 2005. Für den Moment gilt: Derzeit trauen die meisten Wähler keiner Partei zu, die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen. Zugleich wächst die Angst - um Job, Geld und klein Häuschen. Und es wächst Wut.

Übergreifende Wut

Längst ist diese Wut nicht mehr nur in den unteren Schichten der Kleine-Leute-Milieus wie "Traditionsverwurzelte" und "Konsum-Materialisten" anzutreffen; längst macht sie sich auch in den wohlhabenden Milieus der "Etablierten" und "Konservativen" breit. "Da löst sich Urvertrauen in nichts auf", sagt Sinus-Forscher Plöger, "die verstehen die Welt nicht mehr." Sein Institut lädt regelmäßig Testpersonen zu Diskussionsrunden ein, kürzlich mittelständische Unternehmer. Das Ergebnis war beängstigend: "Es herrschte vorrevolutionäre Wut", so Plöger. "Offenbar wird die Systemfrage inzwischen flächendeckend in allen Milieus gestellt."

Beim Josef Vilser, gut, da könnte man das vermuten. Er hat ja selbst schon einiges ausprobiert. War Metzger- und Metallbaumeister, ist heute Bildhauer und Maler. Hat in Bayern mal für die Freien Wähler kandidiert, auch wenn er sonst die Grünen wählt. Wohnt in einer ehemals besetzten Hutfabrik. Und wie üblich im Milieu der "Experimentalisten" wird da sehr viel diskutiert. Über Integration, das Bildungssystem und über Alternativen zum Kapitalismus. Und, gibt es eine? "Die hat der Karl Marx ja schon mal beschrieben", sagt Vilser und lächelt.

"Es war nicht alles schlecht"

Systemfragen würde man auch im Milieu der "DDR-Nostalgiker" vermuten. Bei Gabi Fischer etwa. 55 Jahre, zwei Kinder, alleinstehend, Zweizimmerwohnung in Berlin-Pankow, Köchin in einer Kita. Und so sagt sie auch: "Es geht ja schon länger bergab, aber so wie es jetzt läuft, kann es auf keinen Fall weitergehen."

Sie sitzt im tiefen Sessel vor mächtiger Schrankwand, schmale Frau im hellen Pulli, und strahlt vor allem eines aus: Revolutionen zettelt sie in diesem Leben nicht mehr an. "Ich beschäftige mich eigentlich gar nicht mit Politik, ich habe keine Zeit dafür", sagt Frau Fischer. Und die Systemfrage stellt sich ihr auch nur im Gesundheitssystem. Nie wurde sie früher vom Arzt gefragt: "Wie lange können Sie denn krank sein?" Und Zuzahlungen habe auch niemand verlangt. Es war eben nicht alles schlecht. Und so ist sie auch der Partei treu geblieben, die heute Die Linke heißt - obwohl sie öfter mal nicht wählen war.

Und beim nächsten Mal? "Ich versuche es noch mal, vielleicht gibt es ja einen Lichtblick", sagt sie. Und wenn es nicht ganz für die Linke reicht, wer wäre Ihnen lieber: Frau Merkel oder Herr Steinmeier? "Hm", sagt Frau Fischer etwas ratlos. Aber Sie kennen die doch, oder? "Nee", sagt sie dann sehr vorsichtig.

In den Sternen

Ein Volk? Nein, viele Völker. Politiker und Wahlkampfmanager, Meinungsforscher und Journalisten - sie alle können sich in Berlin und anderswo noch so viele taktische Tricks und technisches Tütü ausdenken; können mit "Lifestyle-Targeting" und Twitter den Deutschen auf die Pelle rücken; können Umfragen starten und Kandidaten ranken - erst am 27. September wird sich zeigen, wer wen wählt. Das "Warum" können viele Wähler nicht einmal dann beantworten.

Einfach unberechenbar, diese Deutschen. Schön rätselhaft.

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