Nach Putsch der Armee Straßenkampf für eine bessere Zukunft: Wie sich Myanmars Jugend gegen das Militär wehrt

Verena Hölzl
Proteste in Myanmar
Sie erwarten den nächsten ­Angriff auf einer Barrikade aus Sandsäcken: Bau- und Motorradhelme sollen die jungen Leute schützen. Gegen scharfe Munition helfen sie nicht
© Hkun Lat
Ganze Familien verschreiben sich in Myanmar dem Widerstand. Vor allem die Jungen kämpfen bis in den Tod – und die Brutalität des Militärs nimmt zu.

Das zusätzliche Schloss an der Tür haben sie in Hmones* Zuhause nie abgehängt. Jeden Abend werden überall in Yangon schwere Eisengitter zugezogen und von innen abgesperrt. Denen, die nicht in der Zeit der Militärdiktatur groß geworden sind, galt das lange als Relikt der Vergangenheit. Jetzt ist Hmone froh, das Schloss zu haben. Denn jede Nacht könnten die Soldaten des Regimes wieder vor der Tür stehen.

Vor mehr als zwei Monaten tat Myanmars Militär, was nur diejenigen wirklich für möglich hielten, die die Diktatur selbst durchlebt haben. Hmones Onkel kam früher als sonst von seiner Morgengymnastik zurück und erzählte außer Atem, was er draußen erfahren hatte: Das Militär hat geputscht. "Ich dachte mir: Das gibt’s ja gar nicht", erinnert sich Hmone. "Wir leben doch im 21. Jahrhundert."

Hmone war etwa zehn Jahre alt, als Myanmars Generäle überraschend verkündeten, dass sie nach einem halben Jahrhundert Militärdiktatur eine Demokratisierung einleiten wollten. Die 21-Jährige wuchs mit den Freiheiten des neuen Myanmar auf. Mit Smartphones und Internet, mit Reisen ins Ausland und politischen Debatten. Investoren und Touristen kamen von weit her in ihre unerschlossene Heimat. Myanmaren, die auf ein besseres Leben im Ausland gehofft hatten, gaben ihre Existenz auf, um beim Wiederaufbau Myanmars mitzuhelfen. Es herrschte Aufbruchstimmung. Der Westen war verzückt von der friedlichen Wandlung der finsteren Militärdiktatur in ein scheinbar freies Land.

Das Bild des verhassten Putsch-Anführers ist durchgestrichen: Mit selbst gemachten ­Schilden verteidigen sich Demonstranten
Das Bild des verhassten Putsch-Anführers ist durchgestrichen: Mit selbst gemachten ­Schilden verteidigen sich Demonstranten
© Hkun Lat

Doch die demokratische Elite unter Führung von Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi wurde verfassungsgemäß zu einem gefährlichen Machtdeal mit dem unberechenbaren Militär genötigt. Am 1. Februar ist er geplatzt. Mehr als 3.000 Personen wurden nach Angaben von Menschenrechtsgruppen seither festgenommen. Viele Familien bekommen nur die leblosen Körper ihrer Angehörigen zurück, oft wurden sie gefoltert.

"Seid stolz!"

Über Yangon wabern dieser Tage regelmäßig dunkle Rauchglocken. Die Festivalstimmung der Proteste in den Anfangstagen ist umgeschlagen in eine angespannte Stille. Mehr als 700 Menschen hat das Militär auf dem Gewissen, Dutzende davon Kinder. In Myanmar sprechen die Menschen von Krieg. Doch es ist ein einseitiger Krieg, denn das Volk kämpft ohne echte Waffen. Hunderttausende, unter ihnen auch Diplomaten im Ausland, sind in den Streik getreten und versuchen, Myanmar so für die Junta unregierbar zu machen. Die jungen Demonstranten in Yangon wappnen sich mit Schutzschilden aus Blech, mit Taucherbrillen und Steinschleudern, sie bauen Barrikaden aus Reifen, Schrott, Holz, Zementsäcken und Stacheldraht.

Proteste in Myanmar
Sie erwarten den nächsten ­Angriff auf einer Barrikade aus Sandsäcken: Bau- und Motorradhelme sollen die jungen Leute schützen. Gegen scharfe Munition helfen sie nicht
© Hkun Lat

"Wenn mir etwas zustößt, seid nicht traurig. Seid stolz!", sagt Hmone ihrer Familie regelmäßig, bevor sie das Haus verlässt, um zu protestieren.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!

Sie weiß, wie gefährlich es ist, auf die Straße zu gehen. Vor ein paar Tagen ist ein Nachbar niedergeschossen worden, als er versuchte, den Rest der rund 50 Demonstranten in Hmones Viertel zu beschützen. Vom Protest hält sie das nicht ab: "Selbst wenn wir nicht demonstrieren, leben wir ja gefährlich." Eine junge Frau sei kürzlich gestorben, einzig aus dem Grund, weil sie auf dem Heimweg von der Arbeit zur falschen Zeit am falschen Ort war und Soldaten über den Weg lief. Kinder werden beim Spielen auf der Straße und sogar zu Hause von Kugeln getroffen.

Die einjährige Thin Thawdaw Tun wurde in ihrem Zuhause von einem Gummiprojektil am Auge getroffen
Die einjährige Thin Thawdaw Tun wurde in ihrem Zuhause von einem Gummiprojektil am Auge getroffen
© The New York Times/Redux/laif

Anders als in der Vergangenheit, als Myanmar so abgeschottet war vom Rest der Welt wie vielleicht sonst nur Nordkorea, dokumentieren die Bürger die Verbrechen des Militärs jetzt mit ihren Smartphones. In wackeligen Videos kann nun jeder sehen, wie Sicherheitskräfte Menschen grundlos festhalten, wie sie medizinischen Ersthelfern ins Gesicht treten oder Menschen auf allen vieren durch die Straßen treiben.

Es droht ein Bürgerkrieg

Hmone hätte nie damit gerechnet, dass auch sie so wie viele Generationen vor ihr noch einmal um ihre Freiheit kämpfen müsste. Jetzt schickt die 21-Jährige wieder Nachrichten-Updates per SMS an Freunde auf dem Land, wo das Militär mit dem mobilen Internet die Verbindung zur Außenwelt gekappt hat.

Sie hatte sich darauf gefreut, wieder zu verreisen, sobald die Pandemie vorbei ist. Im Oktober sollte sie ihr Abschluss- Examen an der Uni ablegen. Englisch hat sie studiert. Daraus wird wohl nichts mehr. Stattdessen spricht sie jetzt mit einer deutschen Reporterin mithilfe einer mehrfach zusammenbrechenden Internetverbindung über den drohenden Bürgerkrieg in ihrem Land, auf Englisch, der Sprache, die sie glaubt, nicht sehr gut zu beherrschen. Wenn es jedoch darum geht, auf die Straße zu gehen, zweifelt Hmone nicht an sich. Sie müsse an den Protesten teilnehmen. "Für meine Zukunft", sagt sie bestimmt.

Myanmar war die Schatten der Vergangenheit noch gar nicht vollständig losgeworden, als das Militär die Macht wieder an sich riss. Auch nach zehn Jahren Demokratie war die ehemalige Diktatur wirtschaftlich von anderen Ländern in der Region abgehängt. Über das vergangene Pandemie-Jahr hinweg ist die Anzahl derer, die weniger als umgerechnet rund 1,50 Euro pro Tag verdienen, laut einer Studie von 16 auf 63 Prozent gestiegen.

Die Blumen als Erinnerung an die Opfer und drei Finger als Symbol der Opposition
Die Blumen als Erinnerung an die Opfer und drei Finger als Symbol der Opposition. ­Übernommen wurde die Geste aus dem Film "Die Tribute von Panem"
© ddp images

"Dieses Mal müssen wir so lange kämpfen, bis wir wirklich gewinnen", sagt Hmone. "Wir wollen nicht mehr so leben wie zuvor." Man hat ihr oft davon erzählt, wie hart das Leben unter der Militärregierung war. Die junge Frau ist die Erste in der Familie, die zur Universität geht. Ihre Eltern leben als Arbeiter auf dem Land. Die Tante nahm sie auf, als sie 15 war, um ihr in der Großstadt den Besuch guter Schulen und der Uni zu ermöglichen. Doch statt ihre Samstage wie zuvor mit Freunden in einem Jugendzentrum der US-Botschaft zu verbringen und ihren Instagram-Account mit Fotos von Blumen und neuen Outfits zu befüllen, beschäftigt sich Hmone jetzt damit, wie sie am Leben bleibt.

Der gelbe Bauhelm, den sie sich zu Beginn der Proteste morgens immer aufsetzte, mag Demonstranten in anderen Städten der Welt vor Gummigeschossen beschützt haben. Den Menschen in Yangon hilft er nicht. Denn das Militär in Myanmar schießt scharf. Es geht nicht darum, Demonstranten abzuschrecken. Es geht darum, sie zu töten. "Die haben sich zu richtigen Terroristen entwickelt", sagt Hmone. Inzwischen setzt sie den Helm deshalb auch nicht mehr auf – er würde sie zu einem Ziel machen.

Ein Vorreiter - bis die Generäle kamen

Sanchaung, Hmones belebter Stadtteil, in dem viele junge Leuten leben, ist in den vergangenen Wochen zu einem der Zentren des Protests geworden, der im ganzen Land Hunderttausende auf die Straßen trieb. Anfang März kesselten Soldaten dort mehrere Hundert Demonstranten ein. Sie entkamen mit der Hilfe von Anwohnern, die sie in ihren Häusern versteckten oder sie durch Hintertüren aus der Gefahrenzone schmuggelten. Auch Hmones Onkel und Tante haben schon junge Leute vor dem Militär in ihrer Wohnung versteckt. Tagsüber verteilen sie Styropor-Boxen mit gebratenen Nudeln oder Reis für die Demonstranten und warnen sie, wenn Soldaten im Anmarsch sind. Der Hass auf das Militär hat die Menschen in Myanmar schon immer zusammengeschweißt.

Myanmar ist seit nunmehr fast 60 Jahren fest im Griff des Militärs. Das ressourcenreiche Land zwischen China und Indien war in der Region auf vielen Gebieten ein Vorreiter – bis die Generäle an die Macht kamen. Die Militärbudgets wuchsen, das Gesundheits- und Bildungssystem verkümmerten. Während das Militär sich und seine Freunde bereicherte, wurde die Bevölkerung immer ärmer.

Drei Wochen waren sie in Haft und stehen nun in Pyjamas auf der Straße
Drei Wochen waren sie in Haft und stehen nun in Pyjamas auf der Straße. Das Militär verhaftet ­viele in der Nacht in ihren Betten
© The New York Times/Redux/laif

Für Hmone und ihre jüngere Cousine hätte die Unterdrückung durch das Militär eigentlich eine Sache der Vergangenheit sein sollen. Anfangs hatte die Zwölfjährige Angst vor den Soldaten mit ihren Gewehren draußen auf den Straßen, inzwischen hat sie sich daran gewöhnt. Jetzt fragt sie Hmone, wenn sie einmal nicht rausgeht, wieso sie denn heute zu Hause bleibe. Anderen sei es schließlich auch nicht zu gefährlich.

"Ich glaube, sie ist stolz auf mich", sagt Hmone. Anfangs nahm sie die Cousine noch mit zu den Protesten. Aber das ist inzwischen zu gefährlich. Statt zur Schule zu gehen, hat das Mädchen es sich seitdem zur Aufgabe gemacht, Hmone und ihre Freunde vor dem Protest mit Getränken zu versorgen. Bisher habe sich die Cousine nicht sehr für das Militär interessiert, sagt Hmone. Jetzt hat sie plötzlich Fragen. "Viel müssen wir nicht erklären, sie sieht ja mit ihren eigenen Augen, was passiert."

Sie flüchten in den Dschungel

Der Widerstand gegen das Militär zieht sich in Myanmar durch die Biografien mehrerer Generationen. Hmones Tante Nwe war 17, als 1988 Hunderttausende gegen die Militärjunta auf die Straßen gingen. Tausende starben. "Ich wusste immer, dass von diesem Militär nichts Gutes zu erwarten ist", sagt sie. Aber dass auch ihre Nichte einmal auf die Straße gehen muss, damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Selbst fühlt sie sich inzwischen zu alt für den Straßenkampf. Sie betet jeden Tag, dass Hmone nichts passiert. "Ich kann ihr nicht verbieten zu protestieren. Die Kinder anderer Familien gehen ja auch", erklärt sie.

Hmones kleine Cousine fragt regelmäßig, was passiert, wenn der Bürgerkrieg nach Yangon kommt. Das Szenario ist nicht mehr unwahrscheinlich. In den Kommentarspalten der Zeitungen fragen Analysten bereits, ob Myanmar das nächste Syrien werden könnte.

Aung Kaung Htet, 15, starb, nachdem Sicherheitskräfte in Yangon in die Menge schossen
Aung Kaung Htet, 15, starb, nachdem Sicherheitskräfte in Yangon in die Menge schossen
© Hkun Lat

Bewaffnete Feinde des Militärs gibt es in Myanmar jedenfalls schon seit Jahrzehnten. In den Grenzregionen verteidigen sie ihre Minderheiten-Gruppen vor den Übergriffen des Militärs und fordern mehr Autonomie. Seitdem die Soldaten nun auch die Menschen in den Mehrheitsgebieten mit denselben brutalen Taktiken terrorisieren, die sie bislang nur gegen Minderheiten wie die Karen und die Rohingya anwendeten, gibt es Pläne für den Zusammenschluss zu einer Bundesarmee. Aktivisten und Bürger, die keinen anderen Weg mehr sehen, wollen sich anschließen. Die Ruchlosigkeit des Militärs treibt die Menschen inzwischen nicht mehr nur auf die Straßen. Sie treibt sie auch in den Dschungel, wo viele für den Kampf trainieren wollen.

Auch Hmone will gehen. Doch ihr Onkel und die Tante mögen den Gedanken nicht. "Wenn nicht wir, wer sonst soll für uns kämpfen und uns unsere Demokratie zurückgeben?", fragt die Nichte. Dass sie auf die internationale Gemeinschaft nicht zählen können, haben viele in Myanmar begriffen.

Vor dem Tod hat Hmone keine Angst. Wofür soll es sich lohnen zu leben in diesem neuen alten Myanmar, wo eine kleine Elite jederzeit ein ganzes Land über Generationen hinweg in Geiselhaft nehmen kann, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen? Wo Soldaten Menschen willkürlich mit Kopfschüssen hinrichten?

Nur eine Sache macht Hmone nachdenklich. "Je mehr von uns sterben, desto weniger werden die Menschen sich auf die Straße trauen", sagt sie. "Dann könnte das Militär tatsächlich denken, es hätte gewonnen."

*Um Hmone und ihre Familie zu schützen, nennen wir im Text nicht ihren vollständigen Namen und zeigen kein Bild von ihr.

Verena Hölzl kommuniziert mit dem Fotografen Hkun Lat, der in Myanmar lebt und arbeitet, aus Sicherheitsgründen nur noch über verschlüsselte Apps. So hielt sie auch den Kontakt mit den Protagonistinnen dieser Geschichte. Cape Diamond recherchierte in Yangon

Erschienen in stern 16/2021