In Sachen Krisenkommunikation ist Deutschland ein Paradebeispiel – und zwar dafür, wie man es nicht machen sollte. "Kommunikation ist das größte Problem in der Pandemie", bemängelten medizinische Fachverbände Ende November in einem Appell. Dabei hatte es vielversprechend begonnen. "Wir werden weiterhin jeden Tag sagen, was wir wissen, aber auch, was wir noch nicht wissen. Wir nehmen die Situation sehr ernst", heißt es in einer schriftlichen Regierungserklärung des Gesundheitsministers vom 4. März 2020. "Wir können uns hier in Deutschland auf Expertinnen und Experten stützen, die zu den besten und angesehensten in der Welt gehören."
Im März 2020 wendet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Fernsehansprache direkt an die Bevölkerung mit der Bitte, die aktuelle Lage ernst zu nehmen. Seitdem hat sich niemand aus der Bundesregierung mehr an die Bürger gewandt. Und Jens Spahn scheint sein Versprechen vergessen zu haben.
Lockerungen: Spahn sagt nein, die MPs setzen sich durch
Im Winter 2020 steigen die Inzidenzen wieder, die Politik beschließt einen Teil-Lockdown. Im folgenden Frühjahr entspannt sich die Situation mit Blick auf die Inzidenzen. Die Pandemiebekämpfung fällt dem Föderalismus zum Opfer. Rufe nach einem langfristigen und bundesweit einheitlichen Stufenplan werden laut. Der Gesundheitsminister quittiert diese mit den Worten: "Alle wünschen sich einen Drei- und Sechs-Monatsplan, aber das geht halt gerade nicht. Ich finde, wir dürfen da keine falschen Versprechungen machen". Soll heißen: Öffnungen sind gerade nicht möglich – auch dann nicht, wenn sie von einem Regelwerk kontrolliert werden. Strenge ist da noch Spahns Devise.
Aber dann geht es doch – irgendwie. Die Kanzlerin ringt mit der "Osterruhe" und mit den Ministerpräsidenten um einen Stufenplan, der zwar am Ende auf ein DinA4-Blatt passt, aber kaum komplexer sein könnte. Wie hoch die Inzidenz wo sein muss und was wo gilt, damit bestimmte Kontaktbeschränkungen und Hygienekonzepte greifen, kann sich kaum einer merken. Schon gar nicht, wenn das Pandemiegeschehen in Deutschland so unterschiedlich ausfällt.
"Holen wir uns das volle Leben zurück"
Doch das ist im März schon fast egal, denn der Sommer naht – und mit ihm die Hoffnung auf niedrige Inzidenzen wie im ersten Pandemiejahr. Tatsächlich gehen die Fallzahlen langsam zurück. "Wir haben es alle zusammen geschafft, die Welle zu brechen und haben damit die Chancen auf einen guten Sommer", äußert sich Spahn Ende Mai im Interview mit der "Bild". Die Corona-Impfung, die jetzt, wo allen ein Angebot gemacht werden kann, an Fahrt gewinnt, gilt in der Politik als Fahrschein aus der Pandemie. Und es läuft gut, wie Spahn selbst betont: "Wir spielen beim Impfen in der Champions League."
Damit hat er aber ein bisschen übertrieben, denn das Impftempo stagniert immer wieder. Ein Grund ist der Impfstoff des britischen Herstellers Astrazeneca, der wegen seltener, aber starker Nebenwirkungen in die Kritik geraten war. Die Datenlage zu den Impfstoffen ist noch dünn, zudem wurden sie gegen den Wildtyp entwickelt, der mittlerweile von der Delta-Variante abgelöst wurde. Das verunsichert.
Trotzdem versucht das Gesundheitsministerium die Motivation für den Piks zu steigern und setzt hierfür auf die Freiheitsliebe der Deutschen. Ein Werbespot zeigt, wie das Leben sein könnte – wenn man sich denn impfen ließe. Das Video beginnt mit einer Frau, die sich impfen lässt. Daraufhin öffnen Café und Restaurants, Familien feiern Geburtstag, Orchester spielen wieder in vollen Sälen und Tausende lassen sich auf einem Festival mitreißen – der Impfung sei Dank. Der Spot endet mit dem eingeblendeten Satz: "Holen wir uns das volle Leben zurück." Die Message dahinter ist eindeutig, doch ganz so einfach ist es nicht.
Die Laissez-faire-Haltung des Jens Spahn
Auf die skizzierten Szenarien dürften die Deutschen jetzt nur noch mit Hohn blicken. Dabei hatten Experten bereits im Sommer vor einer vierten Welle gewarnt. Doch die Vorsicht, die Spahn noch im Frühjahr propagierte, scheint er über Bord geworfen zu haben. Im Einvernehmen mit der Wissenschaft stehen seine Entscheidungen spätestens seit August nicht mehr, als Spahn die Bürgertests für kostenpflichtig erklärte.
Im Oktober liebäugelte Spahn plötzlich mit dem Ende der epidemischen Notlage – obwohl die Fallzahlen sich eindeutig in die falsche Richtung entwickelten. Spahns Begründung: "Die deutsche Impfkamapgne ist noch erfolgreicher als bisher gedacht (...) Das gibt uns zusätzliche Sicherheit für Herbst und Winter." Die Situation sei eine andere als im vergangenen Jahr, als es die Impfung eben noch nicht gab. Dem Vorschlag folgten die Ampel-Parteien nur zu eifrig und riefen gleich den Freedom Day im kommenden Jahr aus – als ob sich das Virus nach dem Kalender im Berliner Regierungsviertel richten würde. Das Impfen steht für Spahn nun an vorderster Stelle. Dass die Wirkung nach einer gewissen Zeit wieder nachlässt und Geimpfte ebenfalls infektiös sein können, wird nicht kommuniziert.
Im November scheint es, als arbeite sich Jens Spahn mit einer trotzigen Laissez-faire-Haltung in Richtung Amtszeitende. Er habe vor Wochen auf die dramatische Lage aufmerksam gemacht, sagte Spahn rückblickend vergangenen Sonntag bei "Anne Will". Gleichzeitig saß der Mann, der eigentlich als ultimativer Krisenmanager aus dieser Zeit hätte hervorgehen können zwischenzeitlich so unbeteiligt auf seinem Stuhl wie jemand, der mit der ganzen Sache nichts zu tun hat.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Dass Spahn nur noch gereizte Aussagen für Ungeimpfte übrig hat ("Es gibt immer noch diejenigen, die glauben, das Virus könne ihnen nichts anhaben. Diese Menschen würde ich am liebsten auf eine Intensivstation zerren und sie im Angesicht des Leids fragen: Was muss eigentlich noch passieren, damit ihr es kapiert?", sagte Jens Spahn in der "Rheinischen Post"), wird die Impfbereitschaft unter den angesprochenen bestimmt nicht steigern. Auch Drohungen werden vermutich nicht viel nützen ("Wahrscheinlich wird am Ende dieses Winters jeder geimpft, genesen oder gestorben sein.").
Kommunikative Fallstricke
Hinzu kommt die Schließung und mühevolle Widereröffnung der Impfzentren, die die Impfkampagne gehörig ausbremsen. Warteschlangen vor Impfaktionen – wie zuletzt etwa in Hamburg in der Elbphilharmonie – und bis Februar ausgebuchte Impftermine beim Hausarzt sprechen Bände. Dass Jens Spahn die Biontech-Lieferungen an die Hausärzte zudem deckelt und für den Wirkstoff von Moderna wirbt, den die Stiko wegen eines erhöhten Risikos nicht für Menschen unter 30 Jahren empfiehlt, ist ein weiteres Eigentor des Gesundheitsministers.
Und auch beim Boostern gab es kommunikative Missverständnisse, die ausgerechnet der Mann beseitigte, der den Gesundheitsminister eigentlich nur beraten sollte. Zu später Stunde erklärte Stiko-Chef Thomas Mertens in der Sendung "Lanz": Als sich Jens Spahn für eine Auffrischung für alle aussprach, die Stiko den Booster aber nur für über 70-Jährige empfahl, hätten beide die gleiche Gruppe gemeint. Die Politik habe sich zuvor dafür ausgesprochen erst jene zu boostern, deren Zweitimpfung schon sechs oder mehr Monate zurückliege. Das sei bei den über 70-Jährigen der Fall, so Mertens. Missverständnis beseitigt? Von wegen. Kurz darauf empfahl die Stiko eine Corona-Auffrischung für alle ab 18 Jahren. Also hatte Spahn doch gemeint, was er gesagt hatte? Wissen wird man es wohl nicht.

Die deutschen Politiker sind nicht unbedingt bekannt dafür, Fehler einzugestehen. Jens Spahn ist da keine Ausnahme. Vor anderthalb Wochen sagte er im ZDF, er habe vor einem schweren Herbst und Winter gewarnt. Gleichzeitig betont er, wie wichtig die Impfung sei, ruft zum Boostern auf und appelliert an die Bevölkerung, die Kontakte zu reduzieren. Seine Rhetorik ist geprägt vom Konjunktiv, die Verwantwortung schiebt er den Bürgern zu, indem er zuletzt immer wieder Kontaktreduzierungen empfahl. Wohl wissend, dass Clubs und Bars, die als Spreader-Locations bekannt sind, weiter besucht werden. Gut möglich, dass er in seinen letzten Amtstagen darauf spekuliert, seine Nachfolger werden das Chaos wieder ausbügeln. Immerhin kann er sich so nicht nachsagen lassen, er hätte nicht nichts getan. Für Appelle hat es immer noch gereicht.