Ein deutscher Junge wird verdächtigt, in der Türkei ein 13-jähriges Mädchen sexuell missbraucht zu haben. Die Mutter des Mädchens bringt den Fall zur Anzeige, die Justiz nimmt den Verdächtigten in Haft und sperrt ihn in ein - zugegebenermaßen unkomfortables - Gefängnis. Soweit, so normal bei einem justiziablen Delikt dieser Größenordnung, vor allem dann, wenn Fluchtgefahr besteht. Die deutsche Botschaft und der Außenminister arbeiten derweil geräuschlos und mit diplomatischen Mitteln daran, dem inhaftierten Deutschen aus dieser misslichen Lage herauszuhelfen.
Man könnte sich also zurücklehnen und auf eine Einigung warten. Wären da nicht die großen Vereinfacher, die solch kleine und lösbare Konflikte gerne zu einer nationalen Angelegenheit aufblasen. So baute Unionsfraktionschef Volker Kauder gleich eine Drohkulisse auf: "Ich kann der türkischen Regierung nur zurufen: Wenn ihr den jungen Mann nicht freilasst, dann ist der Weg der Türkei nach Europa noch meilenweit." Als wäre in einem modernen Staat die Politik - und nicht etwa die Justiz - für derartige Angelegenheiten zuständig. Auch in der deutschen Presse fanden sich reihenweise Stimmen, die der Türkei vorschnell mangelnde EU-Reife bescheinigten. "Marco W. wird zum Symbol von Justizwillkür und Polizeistaat", schreibt beispielsweise das "Flensburger Tageblatt".
Merkel nackt - na und?
Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die deutschen Reaktionen auf die aktuelle Ausgabe des polnischen Magazins "Wprost" betrachtet. Dessen Titelbild zeigt als Fotomontage eine barbusige Kanzlerin, die die beiden polnischen Regierungschefs an ihren Brüsten nährt. Eine kleine Geschmacklosigkeit, wie sie täglich überall auf der Welt in den Medien auftaucht. So manche heimische Publikationen wie das Satiremagazin "Titanic" lebt gar von solchen kalkulierten Provokationen. Für viele deutsche Boulevard-Blätter ist dies gleich ein Staatsakt: "Polen verhöhnen deutsche Kanzlerin", titeln unisono die "Bild"-Zeitung und die "Hamburger Morgenpost".
Geht es auch ein paar Stufen niedriger? Dass eine polnische Zeitschrift unsere Kanzlerin mit nackten Brüsten zeigt mag man als geschmacklos kritisieren - ein Grund, "die Polen" auf die Anklagebank zu setzen, ist das nicht. Am besten jedoch, man zeigt solch durchschaubaren Provokationen gleich die kalte Schulter und freut sich, dass es auch in unserem Nachbarland eine freie Presse gibt, mit der die Journalisten mal mehr, mal weniger verantwortlich umgehen. Wie in jedem anderen Land eben auch.
Justizwillkür sieht anders aus
Gleiches gilt für die maßlose Kritik an der türkischen Justiz. Man kann auf Missstände bei den dortigen Haftbedingungen hinweisen, man darf das Strafmaß für sexuelle Vergehen an Minderjährigen dort für etwas zu hoch finden - dem Land aber Justizwillkür vorzuwerfen und ihm die EU-Reife abzusprechen, das gibt dieser Fall einfach nicht her.
Mit einer derart vereinfachenden Denkweise kann man als Journalist vielleicht die Auflage in die Höhe treiben, auch als Politiker bringt man sich so schnell ins Gespräch. Dem Verständnis der Völker untereinander fügt man auf diese Wiese leicht Schaden zu. Denn das dahinterstehende Denkmuster ist gefährlich: Ein kleiner Vorfall steht nicht für sich, sondern wird als Indiz für das Ganze gesehen. So entstehen schnell "die unflätigen Polen", die "unfähigen, korrupten Türken". Das ist ein wenig so, als wenn man im Ausland davon ausginge, das Verhalten sexgeiler VW-Betriebsräte sei symptomatisch für "die deutsche Wirtschaft"!

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Dass die Bürger nicht auf jede durchsichtige Kampagne hereinfallen und durchaus differenzieren können, beweist eine aktuelle Umfrage des stern: Darin bekunden 65 Prozent der befragten Bundesbürger, dass sie ihre polnischen Nachbarn "sympathisch" finden.