Praxisgebühr Arztbesuche noch zu günstig

Bleibt es bei der Praxisgebühr? Werden Medikamente noch teurer? In Sachen Gesundheitsreform steht viel auf dem Spiel - für die große Koalition und den Bürger. stern.de sprach mit dem Gesundheitsökonomen Peter Oberender.

Herr Professor Oberender, die CDU will eine Kopfpauschale, die SPD die Bürgerversicherung. Sind diese Ansätze überhaupt miteinander zu vereinen?

Sie liegen weit auseinander. Außerdem gibt es andere Themen, die für die große Koalition momentan wichtiger sind: der Arbeitsmarkt, die Steuerpolitik und Europa zum Beispiel. Deswegen glaube ich, dass man mit der Gesundheitsreform in dieser Legislaturperiode nicht zu Potte kommt.

Gleichwohl besteht Handlungsbedarf. Die Ausgaben für Medikamente zum Beispiel werden in diesem Jahr um 20 Prozent steigen.

Das hat damit zu tun, dass verschiedene Kostensenkungsmaßnahmen ausgelaufen sind. Faktisch bewegt sich das Niveau der Ausgaben für 2005 auf dem des Jahres 2003.

Und wird dort verharren?

Ich glaube, dass die neue Regierung immer mehr Medikamente ausgrenzen wird, die Ärzte sie also nicht mehr verschreiben werden können. Ich gehe auch davon aus, dass der Festzuschlag auf Medikamente – das Honorar der Apotheker - von derzeit 8,10 Euro auf 6,10 Euro pro Medikament sinken wird. Die Apotheker sind unerwartet ungeschoren aus den vergangenen Reformen hervorgegangen.

Die Gesundheitsreform

... ist zwischen SPD und CDU nach wie vor umstritten. Die Sozialdemokraten wollen eine Bürgerversicherung: Alle, auch Selbständige und Beamte, sollen in die Gesetzliche Krankenversicherung einzahlen. Die Aufteilung der Beiträge zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer würde beibehalten. Unterm Strich bekämen die Kassen bei diesem System mehr Geld - die Kostenspirale im Gesundheitswesen wäre damit aber noch lange nicht unterbrochen.
Die Union setzt auf eine Kopfpauschale: Jeder Bürger soll - unabhängig von seinem Gehalt - denselben Beitrag für die Krankenversicherung zahlen. Der Arbeitgeberanteil soll eingefroren werden; wer die Kosten nicht tragen kann, soll einen Sozialausgleich aus Steuermitteln erhalten. Die Reform der Union würde die Lohnnebenkosten senken - zöge aber, allein aufgrund des Sozialausgleichs, einen erheblichen Verwaltungsaufwand nach sich.
Der Kompromiss, der derzeit diskutiert wird, scheint darauf hinaus zu laufen, eine große Gesundheitsreform zu unterlassen. Stattdessen sollen "Reförmchen" helfen, die Kosten zu senken: Denkbar wäre zum Beispiel, die Mehrwertsteuer für Medikamente auf sieben Prozent herabzusetzen, den Arbeitgeberanteil an den Versicherungskosten einzufrieren, und den Kassen zu gestatten, mehr Einzelverträge mit Ärzten abzuschließen. Unklar ist indes der Umgang mit der Pharmaindustrie: Die Union will die Arbeitsbedingungen für Pharmaproduzenten verbessern, um Arbeitsplätze zu schaffen, die SPD drängt darauf, die Ausgaben für Medikamente zu senken.

Auch die Krankenhauskosten sind, trotz Fallpauschalen für einzelne Operationen, weiter gestiegen. Was läuft da falsch?

Wir haben ein massives Strukturproblem. In Deutschland gibt eine Überkapazität von 200.000 Krankenhausbetten. Und in den kommunalen Kliniken muss das Personal nach Tarif bezahlt werden; das Management kann nicht frei agieren. Um aus dieser Kostenfalle herauszukommen, müssen weitere Kliniken privatisiert werden. Die große Koalition wird dies auch fördern. Auch an der Verweildauer der Patienten ließe sich noch etwas machen: In den USA liegen Patienten durchschnittlich 4,8 bis 4,9 Tage im Klinikbett, in Deutschland sind es 8,4 Tage.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Macht der medizinische Fortschritt solche Einsparpotentiale nicht wieder zunichte?

Das ist natürlich ein Problem. Siemens ist gerade mit einem Protonenbeschleuniger am Markt, der 120 Millionen Euro kostet. Mit diesem Gerät kann man Krebsgeschwüre behandeln. Aber die Kosten liegen dann bei 20.000 Euro pro Einsatz. Hier helfen nur kluge Kooperationen zwischen mehreren Kliniken weiter.

Klinikaufenthalte werden für den Patienten noch voll finanziert, aber der Hausarzt hält bereits die Hand auf. Gibt es Chancen, die Praxisgebühr wieder loszuwerden?

Ich würde die Praxisgebühr ausbauen! Wir haben in Deutschland 690 Millionen Arztkontakte pro Jahr, das heißt: Jeder Versicherte geht ungefähr zehn Mal pro Jahr zu seinem Doktor. In Schweden, wo jeder Arztbesuch acht Euro kostet, gehen die Menschen im Schnitt 2,3 Mal pro Jahr zum Arzt - und die Lebenserwartung ist dort höher als hier. Selbstverständlich müsste eine solche Maßnahme sozial abgefedert werden, Sozialhilfeempfänger und chronisch Kranke können nicht für jeden Arztbesuch bezahlen. Aber ein völlig freier Zugang zum Arzt macht auch keinen Sinn, denn der findet immer was. Ärzte werden schließlich nur für Kranke bezahlt, nicht für Gesunde.

Prof. Peter Oberender

... doziert Volkswirtschaft und Gesundheitsökonomie an der Universität Bayreuth. Er war Mitglied des nationalen Wissenschaftsrates und sitzt in der bayerischen Bioethik-Kommission. Außerdem ist Oberender stellvertretender Vorsitzender des Bundesschiedsamtes für die vertragsärztliche Versorgung und Vorsitzender des Bundesschiedsamtes für die zahntechnische Versorgung - er kennt also nicht nur die wissenschaftliche Debatte sondern auch die Interessen von Politik und Praktikern.

Welche Einsparmöglichkeiten sehen Sie noch im Gesundheitswesen?

Man sollte den Leistungskatalog der Kassen weiter ausdünnen. Ich würde den gesamten Bereich der Zahnmedizin herausnehmen. Und wir müssen uns auch überlegen, ob ein Mensch, der bettlägrig ist, eine neue Hüfte oder ein neues Knie braucht. Solche Überlegungen würde der Patient selber anstellen, wenn die Eigenbeteiligung höher wäre.

Um das Gesundheitssystem besser zu steuern, bräuchte man mehr Daten. Aber die pauschale Abrechnung von Leistungen zwischen Kassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen verhindert die Datenerhebung.

Genau so ist es. Es gibt viele Leute, die sich hinstellen und sagen, Deutschland hätte das beste Gesundheitssystem der Welt. Woher wissen die das? Die Daten liegen gar nicht vor. Solche Aussagen sind reine Glaubensbekenntnisse. Aber ich sehe in dieser Frage keine schnelle Lösung. Es wird sich ein bisschen was dadurch ändern, dass Kassen zunehmend Verträge mit Ärzten abschließen können. Dann können sie auch die Ergebnisse kontrollieren.

Waren Sie eigentlich überrascht, dass Ulla Schmidt Gesundheitsministerin geblieben ist?

Ja, war ich. Aber das zeigt nur, dass in der Union nicht die passenden Leute bereitstehen. Die FDP hätte für dieses Amt durchaus Personal gehabt. Aber im Gesundheitswesen wird der Verbleib von Frau Schmidt von vielen begrüßt - sie ist eine berechenbare Größe.

Hat Edmund Stoiber seinen Parteigenossen Horst Seehofer ins Kabinett geschleust, um die von der CSU abgelehnte Kopfpauschale zu blockieren?

Es sieht alles danach aus. Und Seehofer hat schon gesagt, dass er sich als Verbraucherminister nicht nur mit Kartoffeln abgeben wird. Er wird auch in der Gesundheitspolitik mitmischen.

Die Fragen stellte Lutz Kinkel