Die Grünen haben es derzeit wahrlich nicht leicht. Ihre rot-grüne Vergangenheit müssen sie bewältigen, die Charisma-Lücke schließen, die der Ober-Grüne Joschka hinterlassen hat - und dann müssen sie zu allem Übel auch noch jene verflixte, inhaltliche Nische finden, die sie künftig medienwirksam besetzen könnten. Irgendwo muss er ja sein, der Unique Selling Point, der die Grünen von FDP, SPD und Linkspartei unterscheidet und der Partei Wähler beschert.
Platzecks Rücktritt verhagelt Auftritt
Es ist vielleicht symptomatisch für den Zustand der Partei, dass es am Montag zufällig wieder ein Sozialdemokrat war, der den Grünen den erneuten Anlauf zu einem öffentlichen Selbstfindungsprozess gründlich verdarb.
Inmitten des medialen Trubels um den Rücktritt von Matthias Platzeck fanden die Grünen-Chefs Reinhard Bütikofer und Claudia Roth jedenfalls wenig Beachtung, als sie in Berlin tapfer ihr Thesenpapier "Grüner Blick nach vorne" präsentierten. Das 22-seitige Papier soll als Grundlage für eine Reihe von Tagungen und Regionalkonferenzen dienen, die sich in den kommenden Monaten mit den zentralen Seins-Fragen der Partei beschäftigen: Was wollen die Grünen eigentlich? Wie sieht grüne Politik aus? Im September, so die Planung, soll das Selbstfindungsprojekt in einen "Zukunftskongress" in Berlin münden.
Zwischen negativer Einkommensteuer und Verfassungspatriotismus
Inhaltlich umreißt das Thesenpapier die zentralen Fragen, mit denen sich in Berlin derzeit eigentlich alle beschäftigen - jene nach der Zukunft der Arbeit, nach der Ökologie, der Bildung, der Integration, der Globalisierung, der Zukunft Europas. Die Lösungsvorschläge der Grünen reichen von der Forderung nach einer negativen Einkommensteuer über ein Plädoyer für einen Verfassungspatriotismus bis hin zur Forderung nach einem Mehr an europäischer Öffentlichkeit. Man wolle sich als "Seismograph gesellschaftlicher Probleme" etablieren, heißt es in dem Papier - und so das Profil der Partei schärfen.
Das Ende der Habt-Euch-Alle-Lieb-Philosophie?
Ob genau das gelingt, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Die Auseinandersetzung mit der Basis könnte dabei nicht nur Auskunft geben über die inhaltliche, sondern auch über die strategische Verortung der Grünen. Gibt es etwa eine Mehrheit für Schwarz-Grün? Hält die Basis es wirtschaftspolitisch eher mit den Linken? Oder setzt sie auf einen liberaleren Kurs? Und vor allem: Ist sie bereit, alte Zöpfe abzuschneiden, sich von ihrer zur Kultur erhobenen Habt-Euch-Doch-Alle-Lieb-Philosophie zu verabschieden? Kurz: Schaffen die Grünen es noch einmal, sich neu zu erfinden?
Kritik aus Freiburg
Auch das derzeitige Spitzenpersonal könnte, jenseits aller inhaltlichen und strategischen Fragen, demnächst zur Debatte stehen. Einen Anstoß zu dieser Auseinandersetzung gab am Montag der Freiburger Bürgermeister Dieter Salomon, immerhin der einzige Regierende, den die Partei derzeit noch hat. Der "Tageszeitung" (Taz) sagte Salomon, dass sich das grüne Prinzip der Doppelspitze in Partei und Fraktion längst überlebt habe - ein klarer Affront gegen das blasse Führungsquartett, das sich aus der Doppelspitze in Partei (Bütikofer und Roth) und Fraktion (Fritz Kuhn und Renate Künast) zusammensetzt. Entsprechend kühl reagierte auch Parteichef Bütikofer auf den Vorschlag aus dem Südwesten. "Das ist vielleicht auf dem Freiburger Rathaus eine Diskussion, aber nicht bei uns", bürstete er die unverhohlene Kritik ab. "Ich erlebe nicht, dass das die Partei umtreibt", sagte er.