Der Ring schließt sich. Immer näher rücken die Fotografen an die Ehrenplätze heran, wie ein übernatürliches Einmachgummi liegen sie um die Tischkante und sperren den Rest des Saals vor Gerhard Schröder weg. Für ein oder zwei Minuten sieht dieser Mann nichts mehr als Linsen und Blitzlichter. Doch er genießt es. Der Altkanzler blättert im Parteiorgan "Vorwärts", setzt sich seine Brille auf und schaut ein wenig interessiert. Dann geht er noch einmal sein Redemanuskript durch - fünf, vielleicht sechs Din A 5-Seiten, mit schwarzer Tinte beschrieben. Schnörkellose Buchstaben, klare Linien. "Wie hält er das nur aus?", fragt sich eine Sozialdemokratin, die fassungslos das Gerangel der Fotografen betrachtet. Dann bleckt Schröder seine Zähne. Sein Lächeln wirkt wie ein lautloses Brüllen.
Altkanzler treffen Ex-Minister
Die SPD trifft sich ab heute zum Bundesparteitag in Hamburg. Vor allem inhaltlich will sich die Partei neu positionieren. Doch der erste Tagungsmorgen gehört der älteren Parteiprominenz. Fünf ehemalige Bürgermeister von Hamburg sind im Saal, diverse Ex-Minister und zwei Altkanzler. Helmut Schmidt ascht seine Reyno Menthol in ein kleines Papierschiffchen, das er vor sich auf dem Tisch aufgefaltet hat. Damit erregt er mehr Aufmerksamkeit als sämtliche praktizierenden Berufspolitiker auf der Rednerbühne. Und dann erst Schröder. Schon bei seiner Begrüßung brandet ein Popstar-Applaus mit Pfeifen und Juchzen durch den Saal, der schließlich in Standing Ovations mündet.
Seine Rede war ursprünglich auf fünf Minuten begrenzt, aber natürlich hält sich Schröder nicht daran. Mit jedem Satz malt er einen weiteren Pinselstrich an seinem Selbstportrait vom unerschrockenen Staatsmann, der Deutschland durch seine schwerste Wirtschaftskrise nach dem Krieg geführt hat. "Und vergessen wir nie: Immer wenn wir, die Sozialdemokraten, die politische Agenda bestimmt haben, ist das Land vorangekommen", sagt er, und zählt dann eine Best-Of-Sammlung seiner Regierungszeit auf: Klimapolitik, Integration, Elterngeld, Friedenspolitik. Und dann sichert er der SPD, quasi im Vorbeigehen, das Copyright auf soziale Gerechtigkeit: "Ihr seid das Original. Die anderen sind das Plagiat. Nicht mehr!" Der Saal johlt.
Nur ein einziges Mal wird es merkwürdig still. Es ist der Moment, auf den viele gewartet haben. Wie wird sich Schröder bezüglich der Agenda 2010 positionieren? Schröder lobt sich selbst und seine Regierungspolitik, sagt aber auch, dass Verbesserungen an der Agenda durchaus in seinem Sinn seien. "Das Bessere ist eben besser", sagt er. "Aber eben das Bessere, und nicht das Populärere." Ein ganz klarer Seitenhieb auf SPD-Chef Kurt Beck, dem mit seinen Reformvorschlägen zum Arbeitslosengeld I oft Populismus vorgeworfen wird.
Die Delegierten sind für einen kurzen Moment pikiert, viele verschränken ihre Arme vor der Brust, statt zu klatschen. Dann klopft Schröder seinem Parteigenossen Beck ein paar Mal verbal auf die Schulter. Die Stimmung ist gerettet.
Standing Ovations für Schröder
Schröder verlässt die Bühne, er bekommt noch einmal Standing Ovations. Dann setzt er sich, schaut Helmut Schmidt nicht an, nur die Kameras. Der Applaus hält an, er steht kurz auf, um die Jubelparade abzunehmen, schmeißt dabei fast die Wasserflasche vom Tisch und lächelt doch noch einmal mit kaum verlernter Kampfeslust in Richtung der Fotografen. Er ist da, wie kaum ein anderer. Dann wechselt er doch noch ein paar Sätze mit Schmidt, beide wirken heiter. Die Journalisten um sie herum sind aufgeregt.
Und ein wenig Wehmut kommt auf, als baden-württembergische SPD-Fraktionsvorsitzende Ute Vogt ins Mikrofon kurpfälzelt. Und dann betritt ein freundlich lächelnder Mann die Bühne, für den anfangs alle ein wenig artiger klatschen als bei Gerhard Schröder. Es ist: Kurt Beck.