Schießbefehl "Lizenz zum Töten" an der Mauer

Nach dem Fund eines Schießbefehls gegen DDR-Flüchtlinge hat der Direktor der Stasiopfer-Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen ein Ermittlungsverfahren gefordert. Der aufgefundene Stasi-Befehl sei "eine Lizenz zum Töten", sagte der Historiker Hubertus Knabe.

Der Auftrag, ohne zu zögern auch auf Frauen und Kinder zu schießen, könne als Anstiftung zum Mord oder Totschlag gewertet werden, möglicherweise gar als unmittelbare Tatbeteiligung. Die Staatsanwaltschaft sollte dies mit der gebotenen Gründlichkeit prüfen. Dazu müsse insbesondere festgestellt werden, wer den Auftrag erteilt habe und ob es in der Folge zu Erschießungen an der innerdeutschen Grenze gekommen sei. Die Staatsanwaltschaft Magdeburg sei aufgefordert, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zu prüfen.

In dem aufgefundenen Stasi-Dokument wird zur rücksichtslosen Anwendung der Schusswaffe aufgerufen - auch wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgten.

Knabe verwies darauf, dass bereits in der Vergangenheit mehrfach Dokumente gefunden worden seien, denen zufolge die Stasi so genannte Einzelkämpfer zum Töten ausgebildet hatte. Die Verantwortlichen hätten dies jedoch immer nur als Planspiele für den Kriegsfall abgetan. Der jetzt bekannt gewordene Auftrag bezog sich aber nicht auf den Kriegsfall, sondern auf den ganz normalen Alltag an der Grenze", sagte Knabe.

Birthler: Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit noch nicht am Ende

Die Entdeckung eines schriftlichen Schießbefehls gegen DDR-Flüchtlinge an der deutsch-deutschen Grenze belegt aus Sicht der Stasi-Unterlagenbehörde die Notwendigkeit der weiteren Aufarbeitung jener Zeit. "Wir sind noch lange nicht am Ende der Aufarbeitung", sagte die Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung". Der bedingungslose Schießbefehl war überraschend in der Magdeburger Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde entdeckt worden. "Das Dokument ist deswegen so wichtig, weil der Schießbefehl von den damals politisch Verantwortlichen nach wie vor bestritten wird", sagte Birthler.

Die DDR-Grenze und ihre Opfer

Die innerdeutsche Grenze von der Lübecker Bucht bis zur damaligen deutsch-tschechischen Grenze bei Hof hatte eine Länge von knapp 1400 Kilometern. Hinzu kam die 155 Kilometer lange und vier Meter hohe Mauer um den Westteil Berlins. Um ihre Bürger vom Westen abzuschotten, begann die DDR schon 1952 damit, an der Grenze umfangreiche Sperranlagen zu errichten. Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Sie fiel erst am 9. November 1989 unter dem Druck der DDR-Bevölkerung. Danach wurden auch die Grenzzäune abgebaut.

Die Sperranlagen wurden von der DDR massiv gesichert und von Soldaten streng bewacht. In Berlin war der sogenannte Todesstreifen an den Betonsegmenten der Mauer 100 Meter breit, an der deutsch- deutschen Grenze war er durch Grenzpfähle und einen Metallgitterzaun auf DDR-Gebiet markiert. Neben Mauer und Zäunen sollten auch Fahrzeug-Sperrgräben, Tretminen und Selbstschussanlagen eine "Republikflucht" verhindern. Von 1971 bis 1984 waren etwa 55 000 dieser "Tötungsautomaten" auf einem Drittel der gesamten Grenzlinie an den Metallzäunen montiert. Wie bei einer Schrotladung wurden Stahl- und Eisensplitter nach der Berührung eines Drahtes durch einen elektrischen Impuls abgefeuert.

Trotz dieser massiven Absperrungen versuchten immer wieder DDR- Bürger die Flucht in den Westen. Zur Zahl der Grenzopfer gibt es unterschiedliche Angaben. Als gesichert gilt nach Angaben des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung, dass zwischen 1961 und 1989 allein in Berlin 133 Menschen starben. Für Mauer und innerdeutsche Grenze insgesamt gibt die Forschungsstelle eine Spanne von 270 bis 780 Toten an. Die Arbeitsgemeinschaft 13. August dagegen spricht von weit mehr als 1300 Opfern. Sie zählt allerdings auch Fälle ohne Fremdeinwirkungen mit, etwa Ertrunkene in der Ostsee oder Opfer von Unfällen mit Schusswaffen.

Das Dokument habe einer Spezialeinheit des DDR-Geheimdienstes, deren Angehörige als normale Grenzsoldaten getarnt waren, das sofortige Schießen auf flüchtende Grenzsoldaten befohlen, selbst wenn diese Frauen und Kinder mitnahmen, erläuterte der Sprecher der Stasi- Unterlagenbehörde, Andreas Schulze, am Samstag. Wörtlich heißt es in der Berliner Dienstanweisung vom 1. Oktober 1973: "Zögern Sie nicht mit der Anwendung der Schusswaffe, auch dann nicht, wenn die Grenzdurchbrüche mit Frauen und Kindern erfolgen, was sich die Verräter schon oft zunutzegemacht haben."

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Politiker sind entsetzt

CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla sagte der Zeitung "B.Z. am Sonntag", "der Fund des Schießbefehls demonstriert in erschreckender Weise wie menschenverachtend dieses System war". Am Vorabend des 46. Jahrestages der Mauerbaus am 13. August 1961 sei es ein Denkzettel für all diejenigen, die die Grausamkeit des SED-Regimes gerne in den Geschichtsschubladen verschwinden lassen möchten.

Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) wertete das Dokument in MDR-Aktuell ebenfalls als Beleg dafür, "dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen sei". Es fänden sich immer neue Erkenntnisse. "Zum zweiten macht es deutlich, wie verbrecherisch die Stasi letztlich gearbeitet hat, dass es also wirklich darum ging, Menschen zu vernichten, Menschen unter Druck zu setzen. Und dieser Befehl macht deutlich, dass auch keine Gruppe ausgenommen war. Selbst Kinder und Frauen waren inbegriffen."

DPA · Reuters
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