Mit meiner liebsten West-Kollegin streite ich mich bei einer Suppe nach Feierabend regelmäßig über die gleiche Frage: Zwischen den Zeilen, so behauptet sie, würde ich immer behaupten, Ostdeutsche wären per se - gewissermaßen von Natur aus - bessere Menschen. Sie ist da - vermutlich ebenfalls naturgemäß - anderer Meinung, und ich sollte das doch endlich mal belegen oder nach fast 25 Jahren ohne Mauer lassen. Also gut.
Davon abgesehen, dass ich das so absolut nie behaupten würde, werde ich es im kommenden Jubiläumsjahr noch differenzierter tun. Sie hat ja Recht: Schließlich steht es 2014 schon 40 Jahre 1:0 für Jürgen Sparwasser. Nackt erkennt man Westler zwar oft noch an der fehlenden Pockenimpfung am Oberarm, generell an vorlautem Geschrei und in meiner Leipziger Straße trotz L-Kennzeichen daran, wer mit dem Auspuff zum Fußweg parkt. Für die subtileren Unterschiede aber fehlen mir auch manchmal Worte.
Noch im versöhnlichen Weihnachtsdusel oder als Vorschuss meiner Vorsätze will ich es mal so sagen: Es gibt hier wie da solche und solche, hier vielleicht ein paar weniger solche und da ein paar mehr. Und wenn allein dieser Eindruck schon wieder dazu führt, dass die Suppe der Kollegin vor Ärger kalt wird, muss ja irgendwas dran sein, oder?
Was soll der Geiz?
Anders als ich mit meinen drei Vorurteilen schleppen Westdeutsche bei diesem Thema offenbar viele Komplexe mit sich rum. Grund genug haben die meisten. Vielleicht hat meine Kollegin aber auch einfach nur Pech mit ihren Ost-Verwandten, denn über deren Ansprüche beschwert sie sich gern: Wie könnten die nach 40 Jahren Misswirtschaft erwarten, es müsse ihnen schon 24 Jahre später so gut gehen wie den fleißigen Landsleuten im Westen?! Was dort als durchschnittlicher Wohlstand gilt, ist in ihren Augen im Osten immer noch eine Unverschämtheit. Und natürlich kann sie aus dem Stehgreif vorrechnen, was dafür allein von ihren Steuern verschwendet und an Stasi-Renten versoffen wird.
Das mit den Stasi-Renten finde ich auch nicht schön, aber was soll der Geiz? Diese ständige Sorge, der Abstand zu angeblich fauleren und überhaupt unverdient lebenden Mitmenschen könnte schmelzen, ist zum Beispiel auch so ein Charakterzug, der nach meiner objektiven Wahrnehmung im Osten weniger verbreitet ist. Zugegeben, ein paar Idioten glauben hier auch, die in ihrer Gegend kaum vorhandenen Ausländer nehmen ihnen die in ihrer Gegend kaum vorhandenen Arbeitsplätze weg. Sonst aber hat die Erziehung zur "sozialistischen Persönlichkeit" neben allerlei Schaden am Selbstwertgefühl vor allem eine Spur hinterlassen: Du bist nichts Besseres, egal ob Anwalt oder Altpapiersammler - außer vielleicht die Genossen der Partei- und Staatsführung, Handwerker. Oder Tante Uschi aus Köln. Für 2013 hatte ich mir sogar vorgenommen, Westdeutschen noch eine Chance zu geben - aber ich bin auch nur ein Mensch.
Heute zählt das Gegenteil
Das Leben ist kein Wettbewerb. Wer das in Schule, Kollektiv oder kollektivem Schlendrian über Jahrzehnte verinnerlicht hat, dem fallen Kinder der Marktwirtschaft eben öfter unangenehm auf. Nicht von Anfang an auf Status, Geld und Geltung konditioniert, drängelt man sich nicht vor, sondern stellt sich hinten an. Rangelt im Job nicht um lächerliche Abteilungsleiterposten. Lässt sich lieber fehlenden Ehrgeiz nachsagen, als vor Kollegen als rücksichtloser Streber dazustehen. Besser überqualifiziert und untermotiviert als umgekehrt - und plötzlich Verteidigungsministerin.
Weil heute überall das Gegenteil zählt, stehen auch viele Westler mit dem Rücken zur Wand. Ihnen fehlt die Kraft, sich dort gemütlich anzulehnen und dem Strampeln der anderen amüsiert zu zusehen - etwa dem symbolischen Kampf um die symbolische Nummer eins im deutschen Fußballtor.
Die beiden alten Nationalpfosten Kahn und Lehmann waren zu ihrer Zeit selten um eine Antwort verlegen, was für jeden selbst auf diesem Posten sprach. Klappern und der sogenannte Wille zum Erfolg galten in der Welt, aus der sie kamen, als Tugend. Bei ihren auch sonst viel sympathischeren Nachfolgern Enke und Adler konnten Journalisten dagegen nichts Vergleichbares rauskitzeln. "Darüber würde ich nie öffentlich reden", antwortete Robert Enke einmal auf die Frage, was ihn gegenüber Adler auszeichne. Nach der Verbalprotzerei ihrer Vorgänger fand er es "wichtig, dass man mit Konkurrenzsituationen vernünftig umgeht".
Na, ob Du Dir damit einen Gefallen tust?!
Oder nehmen wir zwei beliebige SPD-Ministerinnen für Arbeit und Soziales: Eine kündigte 1999 an, mit "Arschlöchern" nicht zu koalieren und stand als Ministerin einer Großen Koalition tatsächlich nicht mehr zur Verfügung. Die Andere posaunte noch vor einem halben Jahr in die "Welt": "Wer SPD wählt, entscheidet sich gegen Frau Merkel und nicht für sie." Heute dient sie ihr als Arbeitsministerin. Ob sich Kinder mit drei Monaten auf das Cambridge Certificate vorbereiten müssen oder ihren Eltern der spätere Marktwert noch egal ist. Ob sie sich ehrlichen Herzens über die Beförderung von Kollegen freuen können oder hektische Flecken bekommen. Man könnte die Beispiele ewig fortsetzen - und obwohl ich sie gerade nicht nach Herkunft sortiert habe, haben Sie es beim Lesen doch getan - oder?
Meine Kollegin entgegnet dann gern, auf solche albernen Befindlichkeiten käme es nicht an. Entscheidend sei, wer am Ende im Tor steht. Und über "Schnauze Wessi" sagte sie anfangs mal: "Na, ob Du Dir damit einen Gefallen tust?!". Der Satz waberte ein paar Sekunden hin und her. Typisch Westen, war mein erster Ostgedanke: Immer muss alles einen Zweck haben, Vorsatz und Karriere. Trotzdem verunsicherte mich ihre fürsorgliche Ehrlichkeit kurz. Ein Rest Ost-Prägung steckt nämlich auch noch in ihr, seit sie von ihren Eltern als Kind in den Westen verschleppt wurde. Womöglich ist es bei ihr aber auch nur wie bei Ex-Rauchern, die ihre eigene Vergangenheit und alle, die immer noch daran hängen, besonders tief verachten.
Deshalb rauchen wir nach dem deutsch-deutschen Eintopf meist noch eine Friedenszigarette und langweilen uns gegenseitig mit guten Vorsätzen, die sie selbstredend viel lauter und vorsätzlicher vor sich herträgt. Noch komischer, als mit schlechtem Gewissen zu rauchen, finde ich es allerdings, dafür in den Raucherbereich zu wechseln, statt schon beim Essen dort zu sitzen. Immer wollen sie alles! Aber das ist auch schon wieder schwer vermittelbar: Meine Kollegin versteht gar nicht, was daran asozial sein soll - an guter Luft zwischen zwei Zigaretten? Außerdem störe es ja keinen.
Die letzten Einheimischen, falls es die in Restaurants von Berlin-Mitte überhaupt noch gibt, sagen tatsächlich nichts. Sie ahnen wohl, dass ihnen - wie mir - im Zweifel sofort Diktaturverhalten unterstellt wird: Entweder gehöre man zu denen oder jenen, alles dazwischen würde von uns Gleichmachern nicht akzeptiert, Freiheit, Individualität und so weiter...
An diesem Punkt gebe ich dann auch meistens nach. Immerhin haben wir schon in der Schule gelernt, dass DDR-Bürger im besseren Deutschland lebten. Diese überhebliche Leisetreterei mag zwar auch nicht besser sein als ihre vorlaute Besserwisserei. Aber wir wären es gerne. Wenigstens das!