Der Anblick ist schrecklich: Die älteste demokratische Partei unseres Landes scheint in Auflösung begriffen. Es gibt historisch keine Parallele mit der heutigen, nachgerade chaotischen Lage der SPD. Die Partei treibt im allgemeinen Eindruck orientierungs- und führungslos dahin.
Das Dilemma ist offenkundig geworden, seit sich die SPD in der Verantwortung von Kurt Beck von der Reformagenda des bis dato letzten sozialdemokratischen Kanzlers Gerhard Schröder absetzte und sich fast zeitgleich anschickte, der von Oskar Lafontaine zur "Linken" aufgemotzten ehemaligen PDS Tür und Tor zu öffnen. Da ging sie dahin, die "neue Zeit", mit der die SPD einst auszog, die Zukunft zu erobern.
Wahlniederlagen, Flügelkämpfe, Abspaltungen
Ist es schon so weit, der stolzen deutschen Sozialdemokratie das Totenglöcklein zu läuten? - Niemand gebe sich Täuschungen hin, auch wenn natürlich richtig ist, dass das politische Prekariat für die SPD wahrlich keine neue Erfahrung ist: Verheerende Wahlniederlagen, Flügelkämpfe, ja Abspaltungen und Absetzbewegungen hat diese Partei in den fast eineinhalb Jahrhunderten ihrer Geschichte schon überlebt. Doch diesmal ist die Lage eine besondere: Aus der internationalistischen, auf Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit programmierten Sozialdemokratie ist ein introvertierter, fast ausschließlich mit sich selbst diskutierender, ja, man muss es so sagen, ein sich im kleinen Karo bewegender politischer Verein geworden, der wie in Schreckstarre auf die "Linke" Lafontaines fixiert ist. Damit ist ganz sicher kein Staat zu machen - und die Regierungsfähigkeit nicht zu halten.
Zur Person
Wolfgang Clement war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident von NRW und von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit. Er leitet als Chairman das Adecco Institute in London. Clement lebt in Bonn.
Die SPD hat ihre Attraktivität einst aus dem Geist des Fortschritts in Bildung und Wissenschaft gewonnen. Heute hingegen drängt sich der Eindruck auf, dies sei mehrheitlich eine Partei der Zweifler und Verweigerer, was sich keineswegs auf die fast isolierende Negierung der Kernenergie beschränkt, sondern beinahe jede neue Technologie betrifft, man nehme nur die Gentechnologie oder die Stammzellforschung und inzwischen auch die Großindustrie. Wie soll daraus Mut für die Zukunft erwachsen?
Vom Auftsiegsversprechen zur Abstiegsversicherung
Eigentlich seit "Godesberg", seit den sechziger Jahren des vorausgegangenen Jahrhunderts war es die SPD, die die Aufstiegswilligen für sich gewann. Fast nichts davon ist heute noch zu spüren. Aus dem politischen "Aufstiegsversprechen", das Chancengerechtigkeit für prinzipiell jedes Talent gewährleisten müsste, ist so etwas wie eine "Abstiegsversicherung" geworden, deren Etikett "Hartz IV" heißt. In unserer Zeit, in der weltweit der "Wettkampf um die besten Köpfe" entbrannt ist und in der auch in unserem Land der Mangel an Fachkräften von Tag zu Tag spürbarer wird, bewegt sich die bildungs- und arbeitsmarktpolitische Perspektive der SPD deutlich unterhalb des Niveaus der internationalen Diskussion.

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Die Lage der Sozialdemokratie ist bitterernst. Sie ist wohl nur zu bestehen, wenn zuallererst klargemacht wird: Mit den ewig Gestrigen, mit den meist Frustrierten und stets Unzufriedenen, die der alles besser wissende Oskar Lafontaine versammelt, würde diese große Partei mit allem brechen, was sie attraktiv gemacht hat für all jene, die unser Land mit Anstand und Verantwortung, mit Augenmaß und Perspektive in eine gute Zukunft führen wollen. Noch ist es nicht zu spät, aber die "neue Zeit" rast dahin. Unser Land braucht eine andere Sozialdemokratie: Sie muss Mut und Zuversicht und Sinn für das Gemeinwohl vermitteln.