Frau Reiche, Sie lehnen die so genannte Stichtagsregelung ab, wonach in Deutschland nur Forschung mit embryonalen Stammzellen zugelassen wird, die vor dem 1.1.2002 gewonnen worden sind. Sie fordern auch, dass kein neuer Stichtag, etwa 1. Mai 2007 beschlossen wird. Warum?
Seit 2002 hat sich viel in der Medizin getan. Forscher, die früher glaubten, mit dem Stichtag 2002 und dem Verzicht auf embryonale Stammzellen leben zu können, sind heute der Meinung, dass die vergleichende Forschung unverzichtbar ist. Das geltende Stammzellengesetz ist aus meiner Sicht in der Tat eine folgenschwere Behinderung der medizinischen Forschung. Und auch eine nach dem Grundgesetz fragliche Einschränkung der Forschung.
Sehen Sie nicht, dass die ethischen Bedenken gegen einen neuen Stichtag oder gar die Freigabe der Stammzellenforschung, die vor allem in Ihrer Partei, der CDU, existieren, zu einer Art Wanderdüne werden, indem man immer wieder an dem Gesetz herum renoviert?
Was wir brauchen, ist eine klare Regelung. Das heißt, embryonale Stammzellenforschung muss auch in Deutschland möglich sein.
Lehnen Sie mit Ihrer Position nicht den Gedanken des geltenden Stammzellengesetzes ab, dass von Deutschland, mit dem Blick auf die deutsche Geschichte, kein Anreiz ausgehen darf zur Tötung von Embryonen?
Dieser Gedanke hat mich immer befremdet. Gerade wir Deutschen sollten doch ernst nehmen, dass fast alle westlichen Demokratien und Israel die Forschung mit embryonalen Stammzellen zu lassen. Die Forschung tut, was sie tun soll: Nämlich zum Wohle der Menschen zu arbeiten, um Heilung und Leidminderung zu ermöglichen.
Es besteht die Gefahr, dass man mit einem neuen Stichtag, wie er jetzt mit dem 1. Mai 2007 im Gespräch ist, alsbald erneut vor dem gleichen Problem steht wie heute. Was halten sie daher vom so genannten "nachlaufenden" Stichtag? Wäre das aus Ihrer Sicht eine Lösung?
Nein. Alle Hilfskonstrukte enden damit, dass immer wieder neue Diskussionen stattfinden, was noch akzeptabel ist. Wir sollten endlich zu einer Position kommen, mit der die Forschung in Deutschland arbeiten kann. Seit Galileo Galilei gilt: Mehrheit und Wahrheit sind nicht immer identisch.
Sollte die Strafandrohung gegenüber deutschen Stammzellenforschern im bisher geltenden Gesetz beibehalten werden?
Nein, auf gar keinen Fall!
Weil sich ein deutscher Forscher strafbar macht, wenn er im Ausland an Forschungsprojekten mitarbeitet, bei dem neuere Stammzellen genutzt werden?
Ja! Er macht sich strafbar, wenn er in internationalen Kooperationen mitarbeitet, bei denen neue embryonale Stammzellen gewonnen werden. Noch belastender für die Forscher sind die damit verbundenen Grauzonen: Macht man sich strafbar, wenn man in Gutachter-Kommissionen mitarbeitet? Was ist, wenn ein ausländischer Forscher nach Deutschland kommt. Wird er dann auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel verhaftet? Das ist doch alles absurd, denn Forschung ist international.
Verhindert also das geltende Stammzellengesetz internationale Kooperation, ohne die heutzutage kaum noch wissenschaftlicher Fortschritt möglich ist?
Sie wird eingeschränkt, vielfach gänzlich verhindert. Die Forscher stehen mit einem halben Fuß im Gefängnis.
Sollte also die Strafandrohung wenigstens auf das Inland beschränkt werden, wie manche vorschlagen? Oder ist das zu wenig?
Die Strafbewehrung muss gestrichen werden. Das Robert-Koch-Institut prüft ja jeden Antrag einzeln und sehr sorgfältig, ehe grünes Licht gegeben wird.
Ist es nicht auch darüber hinaus unangemessen, hier mit dem Strafrecht zu drohen, wo es doch allein um die Entwicklung diagnostischer, präventiver und therapeutischer Verfahren geht?
Wir müssen alles tun, um die Forschungsarbeit auf sicheren Boden zu stellen. Das Verfahren, wie es zurzeit besteht, garantiert hohe ethische Hürden, ehe ein Forschungsprojekt genehmigt wird. Die EU hat diese Arbeitsweise akzeptiert. Ich finde, wir können darauf vertrauen.
Es gibt Verfassungsrechtler wie Professor Matthias Herdegen, die das Stammzellengesetz für verfassungswidrig halten. Sie offensichtlich auch?
Ja. Die heute zur Verfügung stehenden Stammzellen sind mit Viren verseucht. Sie sind unbrauchbar, wenn es um therapeutische Ansätze der Forschung geht. Wenn also ein Material nicht zur Verfügung steht, das andernorts verfügbar ist, dann besteht faktisch ein Forschungsverbot für deutsche Forscher. Damit schlittern wir langsam in die Verfassungswidrigkeit hinein, wie Professor Herdegen zu Recht warnt. Artikel 5 der Verfassung garantiert jedoch die Forschungsfreiheit. Sie kann niemals durch ein einfaches Gesetz eingeschränkt werden.
Deutschland wird immer älter, die regenerative Medizin immer wichtiger und auch erfolgreicher, etwa bei der Behandlung von Parkinson. Ist das nicht ein gewichtiger Grund, die Stammzellenforschung zu regenerieren?
Die Stammzellenforschung spielt im Bereich der regenerativen Medizin eine Schlüsselrolle. Hier werden Erkenntnisse gewonnen, die für alle anderen Bereiche der regenerativen Medizin unverzichtbar sind. Gerade weil wir eine alternde Gesellschaft sind, wäre es wichtig, dass Deutschland im Bereich der regenerativen Medizin führend bleibt, was wir heute noch sind. Wir werden diese Position allerdings verlieren, wenn wir uns nicht endlich öffnen und unseren Forschern alle Möglichkeiten der Forschung einräumen.
In jüngerer Zeit gab es Schlagzeilen über Fortschritte in Japan und der USA im Bereich der adulten, also erwachsenen, fertigen Stammzellen. Forschern ist es gelungen menschliche Hautzellen zu einer Art embryonaler Stammzelle zurückzuprogrammieren. Macht das denn nicht die Forschung mit embryonalen Stammzellen überflüssig?
Die Wahrheit ist: Ausgerechnet die Pioniere der embryonalen Stammzellenforschung werden bei dieser Argumentation als Kronzeuge zu ihrer Verhinderung aufgerufen. Das ist absurd. Diese Forscher forschen doch weiterhin mit diesen Stammzellen, die sie selbst entwickelt haben. Sie können nur dank der Erkenntnisse, die sie mit "ihren" embryonalen Stammzellen gewonnen haben, auch mit adulten Stammzellen arbeiten. Sie könnten diese aber gar nicht nutzen, hätten sie die Vorarbeiten mit embryonalen Stammzellen nicht gemacht. In der Vergleichsforschung sind embryonale Stammzellen weiterhin unverzichtbar.
Hat die CDU/CSU Angst vor Wählerverlusten vor allem im katholischen Lager und lehnt daher eine Freigabe ab? Die Kanzlerin persönlich hat sich auf dem CDU-Parteitag immerhin für eine Lockerung der bisherigen Position stark gemacht.
Der CDU-Parteitag hat nach einer vierstündigen, ernsthaften Debatte den Beschluss gefasst, sich für eine Verbesserung der bestehenden Gesetzeslage auszusprechen. Es ist jetzt unsere Aufgabe, diese Veränderung zu definieren: die gänzliche Aufhebung eines Stichtages, oder die Verschiebung des Stichtages sowie die Aufhebung der Strafbarkeit. Der CDU muss man zubilligen, dass wir mit großer Ernsthaftigkeit und Sachkunde diskutieren.
Wie viele Abgeordnete haben sich bisher hinter Ihrer Position versammelt?
Das sind jetzt insgesamt 92.