Als sich die Aufregung legte, blieb eigentlich nur Schulterzucken übrig. "Das ist viel Lärm um nichts", urteilte Jamie Raskin, Chefankläger im zweiten Impeachment-Verfahren gegen Donald Trump, schließlich. Die ganze Sache sei nur ein Detail und in keiner Weise "kritisch für unseren Fall", so Raskin weiter. Doch ob gewollt oder nicht, ob unwichtig oder nicht: Das Flügelschlagen von Mike Lee, republikanischer Senator aus Utah, knappste einiges von der öffentlichen Aufmerksamkeit ab, die bisher nicht bekannte Video-Aufnahmen vom Sturm auf das Kapitol, aufgenommen von den Sicherheitskameras im Inneren des Gebäudes, erzeugt hatten. Aufnahmen, mit denen die republikanischen Ankläger Ex-Präsident Trump erneut schwer belasteten. Doch zunächst war am Ende des Tages nur von dieser Nichtigkeit die Rede.
Immerhin: Die fragliche Episode könnte ein Licht darauf werfen, inwieweit Donald Trump tatsächlich für den Sturm auf das Kapitol verantwortlich oder zumindest darin verwickelt war. Konkret geht es um einen Anruf Trumps auf dem Handy von Mike Lee, kurz bevor die Senatskammer wegen der anrückenden Randalierer evakuiert wurde. Trump, so wurde es ursprünglich zu Protokoll gegeben, wollte aber gar nicht Lee, sondern Tommy Tuberville, einen Senator aus Alabama, sprechen, und redete sofort los. Lee wandte kurz ein, dass er nicht "Tommy" sei, und gab sein Handy dann Tuberville. Und weiter: Trump soll in dem Gespräch den Mann aus Alabama "angeblich" angewiesen haben, zusätzliche Einwände gegen das Zertifizierungsverfahren zur Wahl vorzubringen. So berichtete es der Demokrat David Cicilline aus Rhode Island. Der Kongressabgeordnete bezog sich dabei auf entsprechende Äußerungen von Mike Lee in einem Bericht der in Utah erscheinenden Zeitung "Deseret News" vom 7. Januar.

Ankläger präsentierten Unmengen an Material
Von dem Bericht wollte der aber nichts mehr wissen. Lee erhob lauthals Einwände. Er habe solche Aussagen nie gemacht, insistierte er, diese müssten aus dem Protokoll gestrichen werden. Die berichteten Einzelheiten des Gesprächs zwischen Trump und Tuberville seien falsch. "Ich bin der einzige Zeuge", betonte Lee. Später gab sein Büro eine Erklärung ab, die unterschwellig die Glaubwürdigkeit der Ankläger infrage stellte: "Heute Abend haben die Impeachment Manager Aussagen von Senator Lee bezüglich eines Telefongesprächs zwischen Präsident Trump und Senator Tuberville verfälscht. Senator Lee protestierte und bat darum, die falschen Aussagen aus dem Protokoll zu streichen." Später berichtete Lee noch, er habe mit Tuberville über dessen knapp zehnminütiges Gespräch mit dem Ex-Präsidenten gesprochen und dabei den Eindruck bekommen, dass Trump nichts vom während der Telefonats wachsenden Chaos' im Kapitol gewusst habe.
Lees Aussagen zu dem Vorfall wurden letztlich tatsächlich gestrichen – wohl in erster Linie, weil die Demokraten die Episode nicht für entscheidend hielten. Denn sie hatten zuvor bereits eine Unmenge an Trump belastendem Material präsentiert. Ein großer Teil waren öffentliche Aussagen von Trump selbst: Tweets, Interviews, Videobotschaften, Wahlkampfauftritte und jene Kundgebung vom 6. Januar, an der der Vorwurf der "Anstiftung zum Aufruhr" maßgeblich festgemacht wird.
"Wäre nie so gekommen ohne Donald Trump"
Mit eindringlichen Video-Aufnahmen zeichneten die Ankläger außerdem minutengenau den Angriff auf das Kapitol nach: Mit wackligen Videos aus den Reihen der Randalierer, die Sicherheitsbarrikaden überrannten, mit roher Gewalt in das Kapitol eindrangen, Sicherheitsleute attackierten, Büros und Sitzungssäle verwüsteten. Mit Polizeifunk-Mitschnitten, in denen Beamte verzweifelt um Verstärkung riefen. Mit Aufnahmen von Körperkameras von Polizisten, die niedergeprügelt wurden. Mit Aufnahmen von Sicherheitskameras aus dem Inneren des Kongressgebäudes, die zeigten, wie sich der Mob im Kapitol ausbreitete und sich Abgeordnete, Senatoren und Mitarbeiter in Sicherheit brachten.

Immer wieder verwiesen die Ankläger darauf, wie nahe die Randalierer Abgeordneten und Senatoren im Kongress kamen – auch dem damaligen Vizepräsidenten Mike Pence. Videoaufnahmen zeigten zudem, wie der Trump-kritische republikanische Senator Mitt Romney nach der Warnung eines Polizisten gerade noch rechtzeitig umkehren und vor den Eindringlingen fliehen konnte. Die Abgeordnete Stacey Plaskett aus dem Ankläger-Team berichtete, der Mob habe Jagd gemacht auf bestimmte Politiker. Sie äußerte die Überzeugung, die Angreifer hätten die Sprecherin des Repräsentantenhauses, die Demokratin Nancy Pelosi, getötet, hätten sie sie gefunden. Die Abgeordnete Madeleine Dean erzählte, wie sie mit anderen Abgeordneten im Plenum des Hauses festgesessen habe, als die Aufrührer gegen die Türe schlugen. "Ich werde dieses Geräusch nie vergessen", sagte sie unter Tränen. "Zu dieser Attacke wäre es nie gekommen ohne Donald Trump."
Auch Giuliani versuchte, Einfluss zu nehmen
Den demokratischen Anklägern ging es aber nicht nur um die Gewalt während des Sturms auf das Kapitol. Sie beschuldigten Trump, er habe schon lange vor der Präsidentschaftswahl im November damit begonnen zu haben, Misstrauen zu säen und seine Basis aufzustacheln. Sie legten dar, wie Trump über Monate die Argumentation aufbaute, er könne die Wahl nur unter einer Voraussetzung verlieren: wenn es zu großangelegtem Betrug komme. Nach der Wahl habe Trump einen Feldzug gegen seine Niederlage gestartet, der schließlich im Gewaltausbruch am Kapitol gegipfelt sei. Diesen habe er "im Fernsehen angeschaut wie eine Reality Show", prangerte Chef-Ankläger Raskin an.
Was Trumps Betrugs-Narrativ betrifft, kam am Tag der Anklage doch noch einmal das Handy von Mike Lee ins Spiel. Denn offensichtlich glaubte nicht nur der Ex-Präsident selbst unter Lees Nummer Tommy Tuberville zu erreichen, sondern auch Trumps damaliger Anwalt Rudy Giuliani. Dieser richtete sich nämlich am Tag des Kapitol-Sturms via Lees Handy ebenfalls an den Senator aus Alabama mit dem klaren Auftrag, das Zertifizierungsverfahren der Wahlstimmen zu torpedieren. Was Giuliani sagte, ist dokumentiert in einer Voicemail: "Senator Tuberville, oder sollte ich sagen Coach Tuberville, hier ist Rudy Giuliani, der Anwalt des Präsidenten. Ich rufe Sie an, weil ich mit Ihnen besprechen möchte, dass die [die Republikaner, Anm. d. Red.] versuchen, diese Anhörung zu beschleunigen, und dass wir Sie, unsere republikanischen Freunde, brauchen, um sie zu verlangsamen."
Ob die Versuche, republikanische Senatoren zu beeinflussen und ein Aufwiegeln der Erstürmer des Kapitols, so zusammengebracht werden können, dass mehr republikanische Senatoren als bisher überzeugt werden können, gegen Trmup zu stimmen, bleibt abzuwarten. Es gilt trotz allem als mehr als unwahrscheinlich. Am Freitag dürften Donald Trumps Verteidiger die vorgebrachten Vorwürfe und Belege "zerpflücken".
Quellen: "Deseret News" (1); "Deseret News" (2); "The Hill"; Nachrichtenagentur AFP