Andrij Melnyk ist zwar in erster Linie der ukrainische Botschafter in Berlin, aber auch ein Mann deutlicher Worte, wenn es um das – nicht immer diplomatische – benennen und bewerten von Politik, ihren Protagonisten und Haltungen geht.
Der Bundeskanzler nimmt der Ukraine die Ausladung von Bundespräsident Steinmeier immer noch übel? Eine "beleidigte Leberwurst", urteilt der Botschafter. Die AfD lehnt Sanktionen gegen Russland ab? "Tschüss", sagt er da. Deutschland läuft Gefahr, durch Lieferungen schwerer Waffen in den Krieg hineingezogen zu werden? "Völliger Quatsch", meint Melnyk. "Für Putin ist Deutschland längst Kriegspartei."
Wirklich? Mit der deutschen Kehrtwende, nun auch schweres Kriegsgerät in die Ukraine zu liefern, hat die Frage an neuer Bedeutung gewonnen. Künftig sollen auch ukrainische Soldaten an Waffensystemen in Deutschland trainiert werden. Die Sorge wächst, der russische Präsident Wladimir Putin könnte die wachsende Militärhilfe zum Anlass nehmen, seinen Feldzug auszuweiten – in letzter Konsequenz bis auf die Bundesrepublik.
Die Krux der Kriegsbeteiligung
Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags befeuerte entsprechende Befürchtungen. Darin stellten Rechtsexperten fest, dass militärische Hilfe für einen angegriffen Staat erlaubt ist. "Erst wenn neben der Belieferung mit Waffen auch die Einweisung der Konfliktpartei bzw. Ausbildung an solchen Waffen in Rede stünde, würde man den gesicherten Bereich der Nichtkriegsführung verlassen", so der sehr vorsichtige Schluss des Gutachtens.
Angriffe, Flüchtende, Gas-Lieferungen: Grafiken zum Konflikt in der Ukraine

Dieser Satz hat manche alarmiert. Deutschland liefert Waffen und bringt den Abnehmern auch noch bei, wie diese zu bedienen sind – verlässt die Republik damit den "Bereich der Nichtkriegsführung", wie es in dem Gutachten heißt?
Eine klare Antwort gibt das Papier nicht, das auf den 16. März datiert. Das Gutachten kommt lediglich zu besagtem vorsichtigen Schluss. Mit Verweis auf die ebenfalls vorsichtige Interview-Aussage eines Völkerrechtlers: Es bleibe "die Betrachtung des Einzelfalls ausschlaggebend", sagte Pierre Thielbörger am 12. März der "Neuen Zürcher Zeitung".
Es wäre auch falsch, meint Markus Krajewski, Völkerrechtler und Generalsekretär der deutschen Sektion der International Law Association. Das Gutachten sei kein "Glanzstück", recht knapp gehalten und ein wenig oberflächlich, zitierte ihn die "Süddeutsche Zeitung". Dennoch könne man die Frage beantworten, wann eine Ausbildung ausländischer Soldaten einen Eintritt als Konfliktpartei bedeute.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Krajewski zufolge ist der Standort entscheidend. "Wenn deutsche Soldaten in die Ukraine reisen und dort den Soldaten helfen würden, ihre Ziele zu beschießen, dann würden sie damit an Kampfhandlungen teilnehmen", so der Völkerrechtler zur "Süddeutschen Zeitung". Der Beschluss des Bundestages, ukrainische Soldaten nur "in Deutschland oder auf Nato-Gebiet" auszubilden, "quasi in Trockenübungen", sei kein Problem. Das könne man unmöglich als "Entsendung" fehlinterpretieren, wie er dem Blatt sagte.
Aber was bedeutet das schon?
Eine Drohung, zwei Schlussfolgerungen
Wer Kriegspartei ist, und wer nicht, ist im Völkerrecht ausbuchstabiert. Allerdings hat es Russlands Präsident mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zur Makulatur erklärt. Das stellt die Verbündeten der Ukraine vor ein Dilemma, das der Philosoph Jürgen Habermas als "Putins Definitionsmacht" bezeichnete: Wann die Grenze des formalen Kriegseintritts überschritten ist, entscheidet (auch) der Aggressor aus Russland.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist sich der Zwickmühle bewusst. "Es gibt völkerrechtliche Grundsätze, die helfen aber nicht weiter", sagte er im Gespräch mit dem stern, werde die Frage, ab wann es zu einer direkten Konfrontation kommt, immer auch vom Gegenüber mitentschieden.
Ist es damit egal, wenn Deutschland noch mehr schwere Waffen liefert und damit jede abwägende Vorsicht über Bord wirft? Das sieht der Kanzler nicht so. "In der Tat sollten wir uns über Putin keinen Illusionen hingeben", sagte er zwar. "Dennoch wäre es komplett falsch, sich in Rage zu reden."
Putin ist unberechenbar, die Lage dementsprechend ernst – darüber sind sich offenkundig alle einig. Nur werden daraus unterschiedliche Schlüsse gezogen.
Die einen warnen angesichts der russischen Drohgebärden, es könne zu einem Dritten Weltkrieg kommen, vor weiterer Waffenhilfe für die Ukraine. Mehrere Prominente formulierten diese Sorge in einem offenen Brief an Kanzler Scholz.
Die anderen halten hingegen an der militärischen Unterstützung fest. "Wenn wir nichts tun würden, dann wäre das Leid der Ukrainerinnen und Ukrainer noch viel, viel schlimmer", sagte etwa Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen). Ihr Parteifreund Anton Hofreiter sieht "keine andere Möglichkeit" als schwere Waffen zu liefern, begehe Putin doch "einen verbrecherischen Eroberungs- oder Angriffskrieg", dem man Einhalt gebieten müsse.

Militärexperten halte eine nukleare Ausweitung des Krieges zwar unwahrscheinlich. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck bezeichnete entsprechende Äußerungen des russischen Außenministers als einen Einschüchterungsversuch. Dennoch werden die Drohungen mit Sorge aufgenommen. Auch von Marie-Agnes Strack-Zimmermann, der Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses. Die FDP-Politikerin sagt aber: Deutschland muss Stellung beziehen, unter anderem mit Waffenlieferungen – um sich an das Völkerrecht zu halten.
"Wie das Kaninchen vor der Schlange"
"Natürlich ist die Lage extrem ernst", so Strack-Zimmermann zur "Süddeutschen Zeitung". Trotzdem empfehle sie Ruhe zu bewahren. "Wenn wir aufgrund dieser verbalen Drohungen wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen, dann werden wir wie gelähmt nichts unternehmen." Das Narrativ des Dritten Weltkrieges, "das von Putin bewusst lanciert" werde, sollte man sich daher nicht zu eigen machen.
Auch sie betont, dass Deutschland keine Kriegspartei sei, da keine deutschen Soldaten ukrainischen Boden betreten würden. "Das ist zentral", sagte die FDP-Politikerin. "Aber wir sind natürlich parteiisch. Wenn die Ukraine völkerrechtswidrig rücksichtslos angegriffen wird, müssen auch wir Stellung beziehen." Das mache man auch durch Lieferung von militärischem Material.
"Wichtig zu verstehen ist", so die Verteidigungsexpertin: "Die Frage, ob Wladimir Putin uns (…) als Kriegspartei definiert, entscheidet Putin für sich selbst." Das Völkerrecht interessiere ihn "nicht die Bohne." Doch als Nationen, "die das Recht akzeptieren, ist es umso wichtiger, dass wir uns daran halten." Das bedeute, das zu tun, was das Völkerrecht klar definiere: "Wer überfallen wird, darf sich zur Wehr setzen, und die Nachbarn dürfen ihn dabei mit entsprechendem Material unterstützen."
Quellen: "Bild am Sonntag", Andrij Melnyk auf Twitter, Bundestag (Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes), "Neue Zürcher Zeitung", "Süddeutsche Zeitung" (Völkerrecht / Habermas / Strack-Zimmermann), "Tagesschau.de" (Völkerrecht / Offener Brief), WDR, "Der Spiegel"