Die FDP-Führung hat am Montag ein Papier beschlossen, das Fragen aufwirft. Die erste betrifft das Erinnerungsvermögen der Deutschen: Wie viel Wissen über die Bonner Republik darf man heute noch als gegeben voraussetzen? Die zweite betrifft die Zukunft der Ampel: Wie lange hält die Koalition noch? Und die dritte betrifft die FDP selbst: Was soll das Ganze?
Arbeiten wir das also der Reihe nach ab.
Erstmal, weil’s so schön war, zur Bonner Republik. Zu den besonderen politischen Momenten am Rhein zählt der Sommer 1982. Otto Graf Lambsdorff, FDP-Wirtschaftsminister in einer Koalition mit der SPD, schrieb damals ein Papier voller wirtschaftspolitischer Vorschläge. Es ist als „Scheidungsbrief“ in die Geschichte eingegangen. Wenig später wechselte die FDP den Koalitionspartner. Helmut Schmidt, SPD, musste gehen. Helmut Kohl, CDU, wurde Kanzler.
Jetzt, fast 42 Jahre später, hat das FDP-Präsidium ein Papier voller wirtschaftspolitischer Vorschläge verabschiedet. Und die Union frohlockt wie damals. „Das Papier liest sich wie Lambsdorff 2.0“, sagt CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann. „Das ist nichts anderes als eine Scheidungsurkunde für die Ampel“, sagt der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder.
Klingt, als rechne die Union damit, dass die FDP bald die Koalition verlässt. Muss ja ein dolles Ding sein, dieses Papier, das auf dem Parteitag am kommenden Wochenende in Berlin diskutiert werden soll. Dabei steht so gut wie nichts Neues drin.
Platzt jetzt die Ampel? Nein, aber.
Einige Vorschläge sind liberale Klassiker, andere gelebte FDP-Regierungspraxis – und was etwas frischer daherkommt, zeichnete sich bereits in den vergangenen Wochen ab. Der Inhalt des Papiers ist in etwa so erwartbar wie die Botschaften von FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner in diesen Tagen. Also: ziemlich erwartbar.
In die Klassiker-Kategorie fallen folgende Vorschläge: Rente mit 63 abschaffen, Bürokratie abbauen, Solidaritätszuschlag für alle abschaffen, EEG-Förderung beenden, Technologieoffenheit entfesseln (ja, da steht wortwörtlich, man solle Offenheit „entfesseln“). Gelebte liberale Ampel-Regierungspraxis war bislang zudem bereits, dass der Finanzminister die kalte Progression ausgeglichen und schnellere Abschreibungen für Unternehmen durchgesetzt hat.

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Und wer zuletzt nicht gleich abgeschaltet hat, wenn Lindner und Co. im Fernseher auftauchten, kennt Ideen wie das Moratorium auf Sozialleistungen und die steuerfreien Überstunden, hat schon einmal gehört, dass die FDP das deutsche Lieferkettengesetz ablehnt und verschärfte Sanktionen beim Bürgergeld fordert.
Kurzum: Sorry, liebe Union, zu früh gefreut, auf Lambsdorff 2.0. müsst ihr weiter warten.
Und damit zur zweiten zentralen Frage: Platzt wegen eines Papiers voller bekannter FDP-Vorschläge jetzt die Ampel? Nein, natürlich nicht. Ist ein Bruch der Koalition im Sommer also ausgeschlossen? Nein, natürlich nicht.
12 Punkte für eine Wirtschaftswende
Die Reflexe der Sozialdemokraten sind offensichtlich intakt. Und sie sind heftig. SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert unterstellt den Liberalen im „Tagesspiegel“ einen „zynischen Blick auf unsere Mitmenschen“. Die SPD lasse nicht zu, „dass unser Land mit dem Fingerspitzengefühl von Investmentbankern geführt wird“, so Kühnert weiter. „Grundlage der Ampel-Koalition ist und bleibt der Koalitionsvertrag.“
Apropos Koalitionsvertrag. Dort steht, auf Seite 158, auch folgender Satz: „Ab 2023 werden wir dann die Verschuldung auf den verfassungsrechtlich von der Schuldenbremse vorgegebenen Spielraum beschränken und die Vorgaben der Schuldenbremse einhalten.“ Tatsächlich, Schuldenbremse einhalten, das steht da. Dennoch vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendein Sozialdemokrat wahlweise die Reform oder die Aussetzung derselbigen fordert.
Nun ist es nicht verboten, als Mitglied einer Koalition ab und an auf die ureigenen Überzeugungen hinzuweisen. Die SPD ist gerne so frei – muss das dann aber auch den Liberalen zugestehen. Und den Grünen, logisch. Deren Spitzenpolitiker*innen allerdings schweigen gerade lieber. Was daran liegen mag, dass sie zu genau zum jetzigen Zeitpunkt nichts anderes als genau solch ein FDP-Papier erwartet haben.
Und damit zur dritten Frage: Was soll das Ganze?
Der Titel des Papiers verrät es schon: „12 Punkte zur Beschleunigung der Wirtschaftswende“. Das also ist das Konzept, von dem Lindner tagtäglich spricht. Die Agenda, mit der er neues Wachstum schaffen will. Was wiederum seiner angeschlagenen FDP helfen würde: Geht’s der Wirtschaft wieder gut, erholen sich auch die Liberalen schnell. Es wäre ein Weg aus der Todeszone.
Wie gut, dass endlich FDP-Bundesparteitag ist
Lindner und seine Vertrauten verhandeln bereits mit SPD und Grünen. Die Liberalen meinen es ernst. Sie wollen Reformen, dafür brauchen sie eine Einigung – aber nicht um jeden Preis. Sie müssen der eigenen Basis glaubhaft vermitteln, sich nicht von den Koalitionspartnern mit Kleinvieh abspeisen lassen zu wollen. Da trifft es sich gut, dass nächstes Wochenende Bundesparteitag ist.
"Parteitage sind dafür da, eine eindeutige Duftmarke zu setzen", kündigte vor Wochen bereits Ex-Euro-Rebell Frank Schäffler im stern an. Wie das geht, hat der FDP-Abgeordnete vor einem Jahr beim Heizungsgesetz beeindruckend bewiesen. Damals hatte das Präsidium den Delegierten einen Leitantrag vorgelegt, der aus Schäfflers Sicht nicht genügend Schutz bot für die von Robert Habeck bedrohten Öltanks und Gasthermen in den Kellern der Deutschen. Also schrieb er selbst einen schärferen Antrag.
Partei- und Fraktionsführung blieb nichts anderes übrig, als Schäfflers Vorstoß zu unterstützen. Sie wirkten kurzzeitig wie Getriebene der eigenen Parteibasis. Das sollte nicht noch einmal passieren, darum nun dieser Beschluss in dieser sprachlichen Schärfe, der noch in einen Leitantrag gegossen werden soll. Es ist eine selbstbestimmte Offensive. Aber, keine Frage, es bleibt eine Gratwanderung.
Was, wenn sich SPD und Grüne kaum bewegen? Wenn die FDP den eigenen Leuten nun viel zu viel verspricht? Nun, dann wird aus diesem Beschluss vielleicht doch noch ein Scheidungspapier. Vielleicht.
Lambsdorff 1.0 war ja auch erst im Sommer.