Wolfgang Clement Über das Nein zur Kernenergie

Neue Aufregung um Wolfgang Clement: In einem Beitrag für das Magazin "Cicero" kritisiert der Ex-Superminister nochmals die SPD-Energiepolitik und den Umgang mit Andersdenkenden. Mit einem Zitat weist er auf die Möglichkeit eines Parteiaustritts hin. stern.de dokumentiert Clements Kolumne.

Parteien auf der Suche nach der verrinnenden Identität. Ein äußerst aktuelles Thema. Es bieten sich dafür derzeit vor allem zwei Gruppierungen an, die einander heute in Regierung und Opposition gegenüberstehen, nachdem sie über sieben Jahre in Berlin gemeinsame Sache machen durften: SPD und Grüne. Grüne und SPD. Der erste Befund: Je schmaler das programmatische Band wird, desto aggressiver geht man mit denen um, die sich davon nicht oder nicht mehr oder nicht mehr ausreichend gebunden fühlen. Der Diskurs, auf den sich beide Parteien früher so viel zugute hielten, wird immer schmalspuriger. Wer nicht spurt, gehört nicht mehr dazu. Boris Palmer oder Hubert Kleinert von den Grünen haben das in diesen Wochen des Öfteren zu hören bekommen. Margareta Wolf zog aus freien Stücken die Konsequenzen.

Bemerkenswert ist, dass sich die Neigung zur Ab- und Ausgrenzung bei beiden Parteien aus der Energiepolitik entwickelt, obgleich dies ideologisch nur bei den Grünen naheliegt. Die Gegnerschaft zur Atomkraft ist schließlich der letzte verbliebene Kern der grünen Identität. Sie gehört "zu den Gründungsmythen" der Partei, wie Politikprofessor Kleinert kürzlich schrieb. Und deshalb wird in Acht und Bann geschlagen, wer es wagt, gegen das dreifache Nein die Stimme zu erheben: Nein zu neuen Atommeilern, Nein zu längeren Laufzeiten von am Netz befindlichen Atommeilern, Nein zu neuen Kohlekraftwerken. Für Sozialdemokraten hingegen galt die Atomenergie einst als hochwillkommener Kraftquell - zur Entlastung der menschlichen Arbeitskraft, für den wissenschaftlichen Fortschritt. Doch das ist, seit Tschernobyl, dahin. Heute gehört der seinerzeitige Beschluss zum Ausstieg aus der Atomenergie für einen Teil der SPD - und nicht für den zahlenmäßig geringsten - zur politischen Dogmatik.

Job in Gefahr

Und für diesen Teil der Sozialdemokratie, derzeit offen in Hessen zu besichtigen, gehören das dreifache Nein und der "vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien in zehn Jahren" zur politischen Substanz.

Wer wagt, solch hehre Zielsetzungen in Zweifel zu ziehen und zu fragen, wie denn mehr als 20 oder 25 Prozent der Stromversorgung bis 2020 durch erneuerbare Energien dargestellt werden sollen, ohne den Industrie­standort Deutschland und Zigtausende von Arbeitsplätzen in den Grundstoffindustrien aufzugeben, dessen parteipolitische Zurechenbarkeit wird – wie geschehen - kurzerhand streitig gestellt.

Für oder gegen uns

Der Parteien Bild droht mehr und mehr zu verschwimmen. Aber statt - gegebenenfalls auch gegen momentane Strömungen - den eigenen Charakter, ein klares Profil in dieser globalisierten Welt neu zu formen, statt die besten, auch die kritischsten Köpfe hereinzubitten, begeben sie sich rundum in Abwehrhaltung. Wer nicht hundertprozentig für uns ist, der ist gegen uns, scheint die Devise zu lauten.

Doch wir wissen: Alleinvertretungsansprüche verlieren über die Zeit an Saft und Kraft. Man darf sie in Zweifel ziehen oder, um es mit dem Pfarrer Heinrich Albertz zu sagen: "In einer Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, wird man sich daran gewöhnen müssen, dass manche den Mund auftun, wenn sie es für richtig halten, und auch Zeitpunkt und Ort ihrer Äußerungen selbst bestimmen."

Wer das verkennt, verliert. Pfarrer Albertz hat seine Partei damals verlassen.

Cicero