Ich war Gewerkschaftsmann. Länger als ein Vierteljahrhundert. Als ich zu arbeiten begann, trat ich in die Journalisten-Gewerkschaft ein. Sofort. Arbeitnehmer gehören in die Gewerkschaft, das war selbstverständlich für mich. Wenig später war ich Betriebsrat. Ein kämpferischer, aber keiner am Faden der Gewerkschaft, denn mir gingen schnell einige Lichter auf: über den Unterschied zwischen den Interessen von Funktionären und Betriebsräten, über die Borniertheit von Organisationen, über Freiheiten im Betrieb.
Denn ich hatte zu lernen, dass mir die Gewerkschaft nicht etwa den Rücken stärkte, sondern im Nacken saß. Weil Erfolge von Betriebsräten für Funktionäre zur Last werden, weil sie selbst daran gemessen werden. Und wir hatten Erfolge. Handelten selbst Gehaltstarifverträge aus, die nicht nur kreativ und für den Betrieb maßgeschneidert waren, sondern auch günstiger als der Branchentarifvertrag. Als ein Sozialplan durchzukämpfen war - der Betrieb zog um - und das mächtig umstrittene Ding am Ende vor einer Einigungsstelle am Landesarbeitsgericht landete, da traten uns unter dem Tisch die hinzugezogenen Gewerkschaftsvertreter ans Bein, um uns zum Einlenken zu bewegen.
Ist doch gut, das könnt ihr doch annehmen, flüsterten sie uns zu. Wir ließen es nicht gut sein - und siegten auf der ganzen Linie. Für die Kollegen, für attraktive Arbeitsplätze, letztlich für die Firma. Und gegen die Gewerkschaft: Zu gut, das war schlecht für deren eigenes Geschäft.
Eine silberne Ehrennadel für 25-jährige Mitgliedschaft
Die blauen Flecken am Bein spüre ich noch heute - im übertragenen Sinne habe ich sie nie mehr auskuriert. Ich blieb dennoch in der Gewerkschaft, auch wenn mir ihr wirklichkeitsfernes Eigenleben fremd und fremder wurde. Eines Tages schickte sie mir per Brief eine silberne Ehrennadel für 25-jährige Mitgliedschaft - und ich erschrak über das alberne Ding, denn von Gewerkschaft hatte ich eine andere Vorstellung als vom Treiben eines Vereins von Angorakaninchenzüchtern. Aber austreten - das wollte ich nicht. Siehe oben. Ich tat es dann doch, als sich die kleine Journalistengewerkschaft im Verdi-Konzern auflöste, der die Ruinen diverser, bizarr disparater Organisationen zu einem neuen Festungssystem zu vereinen suchte. In einer potemkinschen Burg mit kunterbunter Besatzung wollte ich nicht die Zugbrücke hinter mir hochziehen. Mein Austrittsbrief wurde ohne Antwort abgeheftet. Basta.
Gewerkschaften als politische Partei mit Vetorecht? Eine Anmaßung!
Heute finde ich mich, um es klar zu sagen, politisch auf die andere Seite der Barrikade gedrängt. Und dort streite ich mit dem gleichen Selbstverständnis, der gleichen Selbstverständlichkeit und der gleichen Emphase wie ehedem. Für die gleichen Ziele: phantasievolle, zukunftsoffene, betrieblich zugeschnittene Lösungen zur Erhaltung und Schaffung von Arbeit. Aber frontal gegen die Hybris, die Blindheit, die Rücksichtslosigkeit gewerkschaftlicher Funktionärsinteressen, die das Land in Frost tauchen und Arbeit absterben lassen.

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DGB-Chef Michael Sommer trompetet
"Wir verstehen uns als gesellschaftliche Interessenvertretung der arbeitenden Menschen", trompetet DGB-Chef Michael Sommer und trommelt zu Aktionen gegen die Reform-Agenda des Kanzlers. Die Gewerkschaften als politische Partei mit Vetorecht, in diesem Fall als außerparlamentarische Opposition? Welche Anmaßung! Niemand sollte sich davon ins Bockshorn jagen lassen. Es werden nur die Veteranen einer gescheiterten Weltsicht auf die Marktplätze gekarrt werden. Denn gut 40 Millionen Arbeitnehmer gibt es in Deutschland - und nur noch 7,7 Millionen füllen die Karteikästen der Gewerkschaften. Angeblich. 1991 waren es noch 11,8 Millionen. Eine Forsa-Umfrage für den stern hat offenbart, dass gerade 29 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder die Meinung teilen, Gerhard Schröders Reformpläne sollten blockiert werden. 25 Prozent beschreiben ihre Bindung an die Gewerkschaften noch als stark, ganze 19 Prozent sind der Meinung, sie sollten sich zu tagespolitischen Fragen äußern.
Die Gewerkschaftsführer suchen die Zuspitzung, die historische Entscheidung. Sie sollen sie haben: als historische Niederlage. Was zu spitz ist, bricht ab. In England waren überfällige Reformen erst möglich, als die Macht der Gewerkschaften gebrochen war. Die Zeit dafür ist auch bei uns reif - denn der Kartell- und Konsensstaat ist am Ende. Und betrieblichen Bündnissen für Arbeit mit den Betriebsräten gehört die Zukunft. Michael Sommer droht der SPD mit dem Bruch, Franz Müntefering sieht dies als Katastrophe für das Land. Irrtum. Die Drohung ist eine Verlockung.