Es sind Notreflexe. Unverkennbar. Und deshalb, so sympathisch sie auch erscheinen mögen, mindestens zwiespältig, wenn nicht gar gefährlich. An diesem Sonntag wollen Dresdner Bürger, aufgerufen von Prominenten, mit Kerzen und weißen Rosen auf die Straße gehen, um das Gedenken am 60. Jahrestag der Zerstörung der Stadt durch alliierte Bomber nicht allein der dumpf trommelnden NPD zu überlassen. Am 8. Mai sollen die Spitzen von Staat und Gesellschaft, schlägt der Kanzler vor, ihre Gedenkstunde zum 60. Jahrestag des Kriegsendes vom Reichstag vor das Brandenburger Tor verlegen, um dort eine Kundgebung der NPD zu verdrängen.
Gut, dass sich Bürger und Staat regen. Schlecht, dass sie nach der Pfeife der NPD tanzen. Denn so aufgewertet wurden die Braunen noch nie. Sie hätten erreicht, dass sich hier eine ganze Stadt, dort gar Bundespräsident, Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung, Parteien, Gewerkschaften, Wirtschaft und Kirchen in der Haupstadt an ihren Aufmarschplänen ausrichten. Welcher Triumph der einen! Welche Demütigung der anderen! Die NPD in der Offensive, die Demokraten in der Defensive, kündet die Symbolik.
Warum haben Politik und Gesellschaft in Dresden nicht aus eigener Initiative, Verantwortung und Würde ein öffentliches Gedenken geplant, das den Neonazis nur die ihnen gebührende, kaum zur Kenntnis genommene Randexistenz ließ? Warum haben die Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland den historischen 8. Mai nicht von vornherein als Demonstration unter direkter Beteiligung des Volkes geplant - in der Mitte Berlins, die damit höchstens in der Peripherie der NPD gehört hätte? Aus Furcht vor dem schwierigen Bombengedenktag die einen, aus gedankenloser Gedenkroutine die anderen. Beides dient der NPD.
Die braune Maus spielt Katze. Und die Demokraten fügen sich in die Rolle der mighty mouse, die sich einbildet, sie sei mit scharfen Krallen auf der Jagd. Das Gedenkjahr 2005 droht darüber zum Albtraumjahr zu werden. Die Nation, die glaubte, sie könne 60 Jahre danach im Wissen um historische Verantwortung den Blick nach vorn richten, sich selbst und anderen beweisen, wie "normal" sie geworden sei, zeigt wieder nur, dass sie nicht loskommt von der Vergangenheit. Verstört, traumatisiert.
Das Gedenken muss überdacht werden, soll das je anders werden. Die Rhetorik des "Nie wieder", die immer gleichen Beschwörungen des deutschen "Jahrtausendverbrechens", des "Zivilisationsbruchs" von Auschwitz, in den immer gleichen Parlamenten, Sälen und Synagogen von den immer gleichen Rednern vom Blatt gelesen vor den immer gleichen geladenen Gästen, die sich wechselseitig längst ihrer lauteren Gesinnung sicher sein können, kulturell "umrahmt" von den immer gleichen Streichquartetten, immunisieren nicht mehr. Immer mehr immer Jüngere wenden sich ab, hören weg. Routine wird routiniert verdrängt. Auch Lehrer scheitern damit im Unterricht. "Juden sind die Menschen, die Geld dafür kriegen, dass ihre Eltern ermordet wurden", zitiert ein Pädagoge im Berliner "Tagesspiegel" einen Kreuzberger Gymnasiasten. Mit der herkömmlichen Holocaust-Erziehung und "Betroffenheitspädagogik", Gedenkstättenfahrten und Auschwitz-Bildern komme man nicht weiter, resümiert der Mann. Und plant mit anderen anderes: Gespräche über "Israelkritik", rassistische Stereotype und "islamischen Antisemitismus".
Demokraten fühlen sich in der Rolle der mighty mouse, die sich einbildet, sie sei mit scharfen Krallen auf der Jagd.
Hinausgehen, raus aus den Sälen, unter die Menschen, reden, zuhören, den offenen Dialog wagen über Gestern und Heute, das ist nach 60 Jahren das Gebot auch für die Politik. Und wenn schon Gedenken im Bundestag, warum dann nicht einmal ohne Manuskript, in fraktionsübergreifend verabredeter freier und damit ganz persönlicher Rede? Da würde zugehört, weil es packt, ergreift. Brüche und Widersprüche kenntlich macht. Auch Irrtümer.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Oder warum sollten sich die Vorstände der Bundestagsparteien nicht darauf verständigen können, an einem Gedenktag statt einer zentralen Mahnstunde auszuschwärmen und sich zur selben Stunde an Schulen offener Diskussion zu stellen, ohne abgelesene Belehrungen? Warum sollten Ähnliches nicht alle 601 Abgeordneten des Bundestages an einem Tag in allen 299 Wahlkreisen wagen? Und warum sollte der Bundespräsident oder der Bundeskanzler nicht in einer Fabrikhalle über Deutschlands Rolle in der Welt sprechen - und sich anschließender Diskussion stellen? "Unverkrampft", wie es Roman Herzog einst für sich postulierte?
Jedes Jahr übrigens, am Schicksalstag 9. November, bietet sich in Berlin die Gelegenheit für einen überaus lehrreichen Gang durch die deutsche Geschichte: vom Reichstag, wo 1918 die Republik ausgerufen wurde, über eine Synagoge, die 1938 von den Nazis niedergebrannt wurde, zur Mauer, wo die Menschen 1989 die Teilung überwanden. Überall dort hätte die NPD keine Chance. Sie wäre braune Maus.