Das Denkverbot ist gebrochen. Nicht bei uns. Noch nicht. Aber bei unseren Nachbarn. In Österreich, von einer Großen Koalition nicht weniger gequält und gelähmt als Deutschland, bekennt sich die konservative ÖVP zu einer einschneidenden Reform des Wahlrechts: zum Mehrheits- anstelle des Verhältniswahlrechts, wie es in beiden Ländern gilt. Das bedeutet: Nur die vom Volk direkt gewählten Kandidaten in den Wahlkreisen ziehen ins Parlament ein, wie in Großbritannien oder Frankreich, niemand über Listen, deren Aufstellung die Parteien nach Gutdünken diktieren.
Das bedeutet aber auch und vor allem: Schluss, für alle Zeit, mit Großen Koalitionen, denn das Mehrheitswahlrecht beschert in der Regel einer der großen Volksparteien allein eine regierungs- und damit gestaltungsfähige Mehrheit. Und falls es allein nicht reicht, dann sicher im Bündnis mit einer kleinen Partei, nicht mit zweien oder dreien, was in Deutschland die Alternative zur Großen Koalition wäre.
Das Wunder von Wien wird noch wundersamer dadurch, dass die ÖVP, der kleinere Partner in der Großen Koalition, mit dem Mehrheitswahlrecht gar nicht an der Macht wäre. Nach dem Ergebnis der letzten Wahl würden die Sozialdemokraten allein regieren. Die SPÖ aber lehnt die Reform ab. Was beweist: Man kann auch denken und Mut beweisen, ohne sich daraus unmittelbaren Vorteil zu versprechen. Gelobt sei also die ÖVP. Denn sie könnte, sie sollte zum Vorbild werden für Deutschland – und auch hier eine Debatte anstoßen. Die Große Koalition in Berlin, sie demonstriert das gerade, ist schon nach der Hälfte ihrer Regierungszeit erschöpft, am Ende mit ihren Gemeinsamkeiten, bis aufs Blut gereizt von Wut und Widersprüchen.
Dennoch muss sie womöglich nach 2009 fortgesetzt werden. Denn eine schwarz-gelbe Mehrheit ist höchst fraglich. Und die denkbaren Dreier-Bündnisse - eine Ampelkoalition aus SPD, FDP und Grünen, eine Jamaika-Koalition von Union, FDP und Grünen und ein Linksblock von SPD, Grünen und Linkspartei - sind erstens nicht minder zweifelhaft und versprechen zweitens keine Erlösung durch stringenteres Regieren. Im Gegenteil: Jede dieser Konstellationen würde wohl die Qual noch unerträglicher machen, weil die Gegensätze und der Zwang zur Profilierung permanenten Aufruhr versprechen statt Klarheit und Stetigkeit.
Die stabile Verankerung der Linkspartei hat das parlamentarische System dramatisch verändert. Mit fünf Fraktionen und sechs Parteien – inklusive CSU – ist die Seligkeit stabiler Zweierkoalitionen Geschichte. Zunehmend auch in den Ländern. Lähmung und Instabilität aber bergen das Risiko einer permanenten Krise des Parlamentarismus, mit wachsender Wahlenthaltung und einem notleidenden Land, dem Gestaltung verweigert wird. Zudem ist die Opposition unter einer Großen Koalition auf unerträgliche Weise geschwächt: Nur gemeinsam können FDP, Grüne und Linke einen Untersuchungsausschuss durchsetzen, und nicht einmal gemeinsam können sie beim Bundesverfassungsgericht gegen eine Entscheidung des Regierungsbündnisses klagen.
Der Bürger hat direkten Einfluss auf seinen Abgeordneten. Kleine Parteien müssen eben populäre Kandidaten aufstellen, als Ein-Mann-Show sind sie verloren
Ein Ausweg ist das Mehrheitswahlrecht. Zum einen hat der Bürger unmittelbaren Einfluss auf seinen Abgeordneten - und der ist unabhängiger von seiner Partei. Zu beobachten war das etwa bei der Abstimmung über die missratene Gesundheitsreform: Zwei Drittel der Nein-Stimmen und der zu Protokoll gegebenen Einwände aus der Großen Koalition kamen von direkt gewählten Volksvertretern. Sie fühlten sich so frei. Zum anderen ist der faule Kompromiss passé. Hätte es das Mehrheitswahlrecht 2005 gegeben, könnte die Union mit knapper Mehrheit allein regieren. Sie kam auf 150 direkt gewählte Abgeordnete, die SPD auf 145, die Linke auf drei, die Grünen auf einen. Die FDP freilich wäre aus dem - halb so großen! - Bundestag verschwunden.

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Das ist ein starker Einwand gegen das Mehrheitswahlrecht, aber kein schlagender. In Großbritannien sitzen auch die Liberaldemokraten komfortabel im Unterhaus. Kleine Parteien müssen eben populäre Kandidaten aufstellen - als Ein- Mann-Show sind sie verloren. Und: Es gibt auch Modelle für eine "gemäßigte Mehrheitswahl", wie sie etwa der junge Passauer Politologe Gerd Strohmeier propagiert, die eine "proportionale Zusatzliste" für kleine Parteien empfehlen.
Bislang hat das Mehrheitswahlrecht - der Großen Koalition 1966 schon einmal angedacht, dann aber wegen des Widerstands der FDP aufgegeben - in Berlin nur einen offenen Anhänger: Friedrich Merz. "Wer diesen Diskurs jetzt noch verweigert", meint der CDU-Dissident, "der lässt mit zu, dass das deutsche Parlament erneut vor die Hunde geht." In Wien hat die Debatte begonnen. Wer findet den Mut in Berlin?