Zwischenruf Täuschen für den Kanzler

Die Regierung sagt die Unwahrheit: Joschka Fischers Visa-Erlass wurde doch am 15. März 2000 im Kabinett angesprochen - es gab sogar einen Vermerk dafür. Aus stern Nr. 14/2005

Ein Regierungssprecher ist der Regierung, nicht der Wahrheit verpflichtet. Widersprechen die Interessen der Regierung der Wahrheit, hat er zwei Möglichkeiten: Entweder er fährt - mehr oder weniger elegant - Slalom um die Wahrheit wie der Skifahrer um die Stangen, oder er sagt direkt die Unwahrheit. Tut er das Zweite bewusst, lügt er. Handelt er unbewusst, weil er es selbst nicht besser weiß, sondern von Auftraggebern mit der Unwahrheit ausgeschickt wird, ist er bloß Werkzeug der Lüge. Damit die Auftraggeber nicht selbst lügen und später dafür, etwa durch Rücktritt, geradestehen müssen. Ein Regierungssprecher muss für nichts geradestehen. Er wird nicht entlassen, wenn er einer Unwahrheit überführt wird. Der elegante Slalom um die Wahrheit oder die plumpe Unwahrheit gehören zum Geschäft.

In der vergangenen Woche hat der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg die Unwahrheit gesagt, indem er Slalom um die Wahrheit fuhr. Steg ist ein Aktivposten der Regierung. Er ist ein Vertrauen gewinnender, klug und (selbst-)kritisch analysierender Mann. Dafür wird er von der Presse geschätzt. Am 23. März wurde er zur Verdeckung der Wahrheit vors Volk geschickt. Es ging um den am selben Tag veröffentlichten stern-Bericht ("Verräterische Faxe"), wonach das Kanzleramt im März des Jahres 2000 - nur Tage, nachdem Joschka Fischer seinen skandalschwangeren Visa-Erlass gezeugt hatte - von Otto Schilys Protest informiert war und das Thema in der Kabinettssitzung am 15. März, unter Gerhard Schröders Regie, angesprochen wurde.

"Aus den Akten des Kanzleramtes geht zweifelsfrei hervor, dass in der besagten Kabinettssitzung am 15. März das Thema Visumverfahren weder als ordentlicher Tagesordnungspunkt behandelt noch unter dem Punkt ,Verschiedenes" angesprochen worden ist", sagte Steg dazu in der Bundespressekonferenz. Und: "Aus der Aktenlage des Kanzleramtes ergibt sich kein Hinweis darauf, dass der Chef des Kanzleramtes den Bundeskanzler informiert hat." Steg hätte sagen können: "Der Bundeskanzler erklärt, dass das Thema Visumverfahren in der Kabinettssitzung nicht angesprochen wurde" und "Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier versichert, dass er den Kanzler nicht informiert hat". Aber für diese Sätze wären Schröder und Steinmeier haftbar - also wurde Aktenlage vorgeschoben. Der Kanzler, so der Zweck des Manövers, darf heute nichts von Schilys frühen Warnungen gewusst haben, sonst wäre er politisch mitverantwortlich für den späteren Missbrauch des Erlasses, den er - ohne ihm auf den Grund zu gehen - passieren ließ. Er wollte keinen offenen, ja öffentlichen Disput, denn die Ausländerpolitik war auch damals Thema im nordrhein-westfälischen Wahlkampf ("Kinder statt Inder").

Die Wahrheit sieht so aus: Der Visa-Erlass, das weiß der stern aus der Runde der Teilnehmer, wurde am 15. März 2000 sehr wohl in der Kabinettssitzung angesprochen. Das war sogar auf dem üblichen vorbereitenden Vermerk notiert, mit dem der Kanzler und seine engsten Mitarbeiter ins Kabinett zu gehen pflegen. Michael Steiner zum Beispiel, der damalige außenpolitische Berater Schröders, hatte diesen Vermerk in der Sitzung vor sich liegen. Unter dem letzten Tagesordnungspunkt "Verschiedenes" hieß es da: "Visumverfahren bei den Auslandsvertretungen". Und: "Keine inhaltliche Diskussion", denn die "Klärung der Streitpunkte" sollten diskret die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes und des Innenministeriums übernehmen.

Ganz nach diesem Fahrplan, so die Schilderung aus der Runde, lief die Kabinettssitzung dann auch ab: Grollend beklagte sich Otto Schily, sein Ministerium sei nicht an dem Visa-Erlass des Kollegen Fischer beteiligt gewesen. Alle wurden hellhörig. Joschka Fischer, so erinnert man sich, lehnte sich lächelnd, mit theatralisch geduldiger Geste zurück und erwiderte kurz. Der Kanzler hob beschwichtigend die Hände, um die Streithähne zu bremsen und eine inhaltliche Diskussion abzublocken; prompt war das Thema zur "Klärung der Streitpunkte" durch die Staatssekretäre vom Tisch.

Der "Spiegel" hat übrigens damals schon so in Umrissen von der Kabinettssitzung berichtet und aus dem Vermerk zitiert - in seiner Ausgabe vom 20. März 2000, fünf Tage nach der Ministerrunde. Allerdings ohne die Brisanz des Visa-Erlasses zu ahnen. Das Kabinettsprotokoll, ein reines Ergebnisprotokoll, dürfte die Szene nicht festgehalten haben. Der Vermerk könnte indes noch in den Akten des Kanzleramtes sein - doch Dokumente zur internen Meinungsbildung der Regierung müssen nicht an den Untersuchungsausschuss herausgegeben werden. Aber es gibt ja Zeugen der Sitzung - viele Zeugen, die befragt werden können. Schily. Auch der Kanzler selbst. Man wird sehen, ob sie sich erinnern können. Oder wollen. Die Unwahrheit ist mit hohem Risiko befrachtet. Bei Affären solchen Kalibers sind Rücktritte selten Ergebnis des ursprünglichen Sachverhalts. Ämter kosten meist geplatzte Lügen.

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Hans-Ulrich Jörges