Was haben die Frankfurter Oberbürgermeisterin und die Gesundheitsreform gemeinsam? Beide haben keine Mehrheit - und dennoch haben sie sich durchgesetzt. Das klingt wie ein Scherz, aber es ist weit davon entfernt. Die Wiederwahl von Petra Roth durch die Bürger der Bankenmetropole Frankfurt am Main wie die Verabschiedung der Gesundheitsreform durch den Deutschen Bundestag erfüllten formal die Regeln der Demokratie - und künden doch auf dramatische Weise von der Auszehrung ihrer Legitimation. Nicht die Wahl und der Beschluss als solche dürften mithin im Fokus von Publikum und Medien stehen, sondern die Umstände, unter denen sie zustande kamen.
Diese Umstände sind unerhört, Marksteine auf dem Weg zum Ruin der Parteiendemokratie. Dass darüber wenig oder gar nicht geredet und geschrieben wird, ist ein weiterer solcher Markstein. Es wird ernst - und dennoch nehmen die Handelnden die Zeichen nicht ernst. Sie verschließen auf skandalöse Weise die Augen vor dem Skandal.
Als die CDU-Kandidatin am 28. Januar erneut zum Stadtoberhaupt gewählt wurde, erhielt sie 60,5 Prozent der Stimmen, und ihr Parteifreund Roland Koch, Hessens Ministerpräsident, bejubelte das "großartige Ergebnis". Doch nur 33,6 Prozent der Wahlberechtigten hatten ihre Stimme abgegeben - so wenig wie nie zuvor, eine rasante Beschleunigung der Wahlenthaltung in Deutschland.
Petra Roth wurde also in Tat und Wahrheit nur von einem Fünftel der Frankfurter gewählt. Doch den Makel bereinigte die Unerschütterliche mit polit-professioneller Kaltschnäuzigkeit, indem sie die Abstinenten flugs zu Anhängern erklärte: "Die, die nicht gewählt haben, wollten keine Veränderung."
Als der Bundestag am 2. Februar die Gesundheitsreform beschloss, wurden 378 von 593 abgegebenen Stimmen als "Ja" gezählt, nur 51 Abgeordnete der Großen Koalition votierten mit "Nein" oder Enthaltung, und die Kanzlerin, die im Plenum kein einziges Wort verloren hatte, an dem sie später zu messen wäre, sprach anschließend von einem "sehr bedeutenden Werk". Doch alle wussten, dass das vom Volk vehement verworfene Gesetz die Mehrheit verfehlt hätte, wenn die Abgeordneten frei vom Druck ihrer Anführer nur nach Artikel 38, Absatz 1 des Grundgesetzes abgestimmt hätten - jenem Artikel, der bestimmt, dass die Parlamentarier "Vertreter des ganzen Volkes" sind, "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen".
Die Formel aber ist durch die Praxis kalter Unterwerfung derart ausgehöhlt, dass nicht einmal mehr Abstimmungen über Krieg und Frieden als Gewissensfragen durchgehen. "Die zittern wie Espenlaub", berichtete ein Abtrünniger über Angst und Bedrohung in den Reihen der SPD.
Das aber war längst noch nicht alles, was diesen "dunklen Tag für die Freiheit", so der FDP-Abgeordnete Konrad Schily, zu einem der dunkelsten in der Parlamentsgeschichte machte. Denn die überwältigende Mehrheit der Volksvertreter wusste nicht, konnte im Detail gar nicht wissen, was sie da beschloss. 81 Änderungsanträge, eine Flut von Änderungen zu Änderungen, wurden noch zwei Tage vorher im Gesundheitsausschuss des Parlaments durchgepeitscht. Am Vorabend der Abstimmung wurde der mehr als hundertseitige Bericht des Ausschusses an das Plenum mit Brachialgewalt durchgedrückt - die Grüne Birgitt Bender, eine in Sorgfalt geschulte Juristin, erhielt ihn von der Koalitionsmehrheit um 19.35 Uhr, um 20.10 Uhr sollte sie ihn "gefälligst" unterschreiben -, so knapp also, dass die Masse der Volksvertreter die Erläuterungen der Fachleute vor der Abstimmung unmöglich noch lesen konnte. Das Chaos im Dickicht der Paragrafen war so überwältigend, dass selbst die Gesundheitsexperten am Schluss noch im Plenum über Interpretationen stritten.

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83 Abgeordnete gaben Erklärungen ab - auf Papier, stumm. "Die zittern wie Espenlaub", berichtete ein Abtrünniger über Furcht und Bedrohung
Doch die Mehrheit stimmte zu. Sie votierte blind oder geblendet. Sie vergaß Grundgesetz und Auftrag. Sie verschenkte ihre Würde. Der Fall wirft alte Fragen neu auf: Wie sollen Abgeordnete, die so gedemütigt werden und sich so demütigen lassen, eine Regierung kontrollieren, wenn sie neben dem Mandat auch noch einem Beruf nachgehen? Der letzte Parlamentarier, der im Bundestag gegen seine Entwürdigung rebellierte, war der Grüne Werner Schulz, ein ostdeutscher Bürgerrechtler, dem die Freiheit nicht geschenkt worden war. Am 1. Juli 2005 widersprach er als Letzter in der Debatte über die Vertrauensfrage Gerhard Schröders in einer persönlichen Erklärung dem abgekarteten Votum für vorgezogene Neuwahlen. "Echte Demokratie ist doch kein leerer Wahn", zitierte er Albert Einstein. Schulz sitzt nicht mehr im Parlament. Seine Partei ertrug ihn nicht, er wurde ausgeschwitzt.
Vor der Abstimmung über die Gesundheitsreform wagte es kein Einziger aus der Koalition, Zweifel oder Ablehnung mutig im Plenum zu begründen. 83 gaben am Ende persönliche Erklärungen ab - auf Papier, stumm. Die kleine Freiheit verschwand im Protokoll des Bundestags.