Am 20. Juni 2020, inmitten der Corona-Pandemie, fährt Maïmouna Obot in Baden-Württemberg mit der Bahn. Sie sei von einer Wanderung zurück nach Stuttgart gefahren, erzählt sie heute. Die Bahn sei sehr voll gewesen, und viele der Fahrgäste hätten keine Maske getragen. In Absprache mit dem Zugführer und auf dessen Rat hin habe Obot sich entschieden, die Polizei zu rufen. Als der Zug gegen 21 Uhr am Bahnhof Tübingen einfuhr, kamen auch die Bundespolizisten. Doch Monate später bekommt Obot Post: Sie soll eine Rechnung zahlen, außerdem haben die Beamten sie wegen Beleidigung und falscher Verdächtigung angezeigt. Was war passiert?
Die Geschichte, die Maïmouna Obot gegenüber dem stern über den Samstagabend im Juni erzählt, klingt nach einem gewöhnlichen Einsatz: "Die Polizisten haben freundlich gegrüßt, als sie kamen", sagt sie. "Der Dünnere der beiden ging durch den Zug und hat die Leute ermahnt." Der zweite Beamte habe in dem Zugteil, in dem auch Obot war, den jugendlichen Fahrgästen die Regeln erklärt. In der ganzen Zeit habe der Zug in Tübingen gehalten.
Obot habe sich währenddessen mit dem Zugpersonal auf dem Bahnsteig unterhalten und in der Tür gestanden, sagt sie: "Ich habe wegen des Zigarettenrauchs versucht, so weit wie möglich von ihnen weg zu stehen." Wie aus einem Brief der Stuttgarter Bundespolizei an Obot hervorgeht, hat Obot den Abend genau so auch gegenüber der offiziellen Stelle erklärt.
Vier Monate nach dem Einsatz soll Obot bezahlen
Die beiden Bundespolizisten schilderten ihn aber offenbar anders: Im Oktober 2020 erhält Maïmouna Obot ein Schreiben, in dem die Polizei erklärt, eine "Kostenfestsetzung" zu beabsichtigen. Man vermute, dass Obot den Einsatz durch eine "vorsätzliche oder fahrlässige Schaffung einer Gefahrenlage" selbst ausgelöst habe. Außerdem habe sie den Zug am Weiterfahren gehindert, in dem sie die Tür blockiert habe. Kostenpunkt: rund 85 Euro.
Obot sagt, sie sei über die Wendung vier Monate nach dem Einsatz schockiert gewesen: "Ich glaube, die Beamten haben sich das ausgedacht." Und sie äußert eine Vermutung: Obot, die zuvor als Personalchefin beim Landeskriminalamt in Baden-Württemberg gearbeitet hat, habe in ihrer beruflichen Laufbahn Rassismus, Sexismus und andere Diskriminierungsformen in der Polizeibehörde kritisiert. Das sei vielen Menschen dort missfallen.
Die Bundespolizei hätte nach dem Einsatz womöglich herausgefunden, wer sie ist, sagt Obot. Auch in ihrem Antwortschreiben an die Polizei beschreibt die Stuttgarterin diese Gedanken – und auf ihrem Twitter-Account. Mit Folgen.

Obot wirft der Polizei Rassismus vor
Wie aus einem Brief der Bundespolizeidirektion Stuttgart aus dem Januar 2021 hervorgeht, sieht die Behörde nach Obots Antwort nun doch von der Kostenfestsetzung ab. Der Zug habe durch den Einsatz 17 Minuten Verspätung gehabt. Es sei aber weder klar, ob Obot tatsächlich die Tür blockiert habe, noch, ob die anderen Fahrgäste ihre Masken tatsächlich nicht ordnungsgemäß trugen. Weil Aussage gegen Aussage steht, muss Obot für den Einsatz also nicht zahlen. Allein: Warum die Erzählungen so unterschiedlich sind, erklärt die Polizei in dem Brief nicht.
Vorwürfe, nach denen die beiden Beamten verleumderisch und womöglich aus rassistischen Gründen gehandelt hätten, weist die Polizei in dem Schreiben allerdings zurück. Die Namen der beiden Bundespolizisten werde man Obot nicht mitteilen. Äußerungen auf ihrem Twitter-Account, nach denen die Bundespolizei sich einen Sachverhalt ausgedacht habe, solle Obot aber in Zukunft unterlassen. Einen entsprechenden Tweet zitiert die Behörde in dem Brief. Doch Anfang Februar erhält Maïmouna Obot einen weiteren Brief, der dem stern ebenfalls vorliegt: Die Polizei ermittelt nun gegen sie.
Die Polizei ermittelt nun gegen Obot – wegen Beleidigung
Die beiden Bundespolizisten fühlten sich durch Obots Antwortschreiben vom Oktober 2020 in ihrer Ehre gekränkt, heißt es in dem Schreiben. Sie hätten Strafantrag wegen Beleidigung gestellt. Zudem stehe Obot unter Verdacht der falschen Verdächtigung, weil sie die Beamten einer Dienstpflichtverletzung durch die mutmaßliche Abänderung des Einsatzberichts beschuldigt habe.
"Wenn ich wolle, könne ich mich nochmal schriftlich äußern", sagt Obot. "Aber als ich mich beim letzten Mal geäußert habe, habe ich eine Anzeige bekommen." Bei ihren Recherchen habe sie herausgefunden, dass die Polizei bei Anschuldigungen oft mit Gegenanzeigen reagiere, sagt sie.
Fehlverhalten von Polizisten und Polizistinnen bleibt in Deutschland oft ungeahndet
Tatsächlich gibt es in Deutschland keine unabhängige Beschwerdestelle, die ein mögliches Fehlverhalten von Polizisten und Polizistinnen überwacht und überprüft. Die Vereinten Nationen und der Europarat forderten Deutschland in der Vergangenheit bereits auf, entsprechende Strukturen zu schaffen. Besonders Polizeigewalt und mutmaßlich rassistisch motivierte Fälle, in denen Beamte beschuldigt werden, lassen sich so oft nicht lückenlos aufklären.
Und: Weil die Aufklärung so schwierig ist, raten viele Anwälte und Anwältinnen den Opfern rassistisch motivierter Polizeigewalt sogar von juristischen Schritten ab. Eric Töpfer vom Deutschen Institut für Menschenrechte erklärte dem Spiegel gegenüber, dass entsprechende Anzeigen oft mit Gegenanzeigen von der Polizei quittiert werden, die dann vor Gericht landeten. Dort steht dann Aussage gegen Aussage. Aber: Qua Beruf gelten Polizeibeamte bei vielen Richterinnen und Staatsanwälten als besonders glaubwürdig.
Maïmouna Obot sagt, sie wolle sich weiterhin wehren. Auch deshalb suche sie die Öffentlichkeit und wende sich an Journalisten und Journalistinnen. Auf Twitter wurde ihr Beitrag zu dem Fall fast 500 Mal geteilt. Ein verifizierter Account der Bundespolizei Baden-Württemberg wies die Rassismusvorwürfe darunter erneut zurück.
Auf einen Fragekatalog unserer Redaktion schickte die Pressestelle der Behörde bis zur Veröffentlichung dieses Artikels auch nach mehreren Nachfragen und Telefonaten allerdings keine Antworten: Die Anfrage sei an das Bundespolizeipräsidium in Potsdam weitergeleitet worden. Wie es tatsächlich zu den verschiedenen Erzählungen dieses Samstagabends im Juni kam, bleibt auch weiterhin offen.