Grüne Energie aus dem Reaktor? Laut einem Verordnungsentwurf der EU-Kommission, welcher der Nachrichtenagentur AFP am Samstag vorlag, soll Energie aus Erdgas- und Atomkraftwerken als nachhaltig gelten. Demnach sollen bis 2045 erteilte Genehmigungen für neue Atomkraftwerke unter die sogenannte Taxonomieverordnung fallen und der Bau entsprechend gefördert werden können. Für neue Gasinfrastruktur soll dies demnach unter bestimmten Voraussetzungen bis 2030 gelten.
Die Taxonomie ist eine Art Klassifizierung nachhaltiger Wirtschaftsaktivitäten und kommt einer Einstufung als förderwürdig und einer Empfehlung an Investoren gleich. Den entsprechenden Rechtsakt hatte die EU-Kommission bereits im April vorgestellt. Die heikle Frage der Bewertung von Gas- und Atomenergie ließ die Behörde damals jedoch aus. Es sollten noch weitere Experten-Berichte und Bewertungen abgewartet werden.
"Es muss anerkannt werden, dass der fossile Gas- und der Kernenergiesektor zur Dekarbonisierung der Wirtschaft der Union beitragen können", heißt es nun in dem Brüsseler Entwurfspapier. Die Kommission hat den Vorschlag noch nicht offiziell vorgestellt. Der Entwurf wurde nach Angaben aus Brüsseler und Berliner Kreisen am Silvesterabend kurz vor Mitternacht für einen Konsultationsprozess an die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten verschickt.
Frankreich drängt auf "Grün"-Einstufung von Atomenergie
Dem Dokument zufolge soll der "Bau und sichere Betrieb neuer Kernkraftwerke zur Strom- oder Wärmeerzeugung, auch zur Wasserstofferzeugung, unter Einsatz der besten verfügbaren Technologien" als taxononmiekonform, also nachhaltig und klimafreundlich gelten. Weitere Vorgaben sind etwa für den langfristigen Umgang mit radioaktiven Abfällen vorgesehen.
Vor allem Frankreich drängt mit Nachdruck auf eine Einstufung der Atomkraft als nachhaltig. Auch Polen und weitere östliche Länder drängen die EU-Kommission, Atomstrom als klimafreundlich anzuerkennen. Entschieden dagegen war mit Deutschland, Österreich und Luxemburg bislang nur eine Minderheit der EU-Staaten.
Für die Förderwürdigkeit neuer Gasanlagen sind dem Entwurf zufolge strengere Regeln vorgesehen. Etwa müssen die fraglichen neuen Anlagen stets eine alte Anlage, die fossile Brennstoffe nutzt, ersetzen. Auch soll nachgewiesen werden müssen, dass die geplante Energieproduktion nicht auch mit einer erneuerbaren Energiequelle geleistet werden könnte.
Die vorherige Bundesregierung hatte mit Nachdruck auf der Bedeutung von Erdgas als Übergangstechnologie hin zur Klimaneutralität bestanden. Die SPD von Neu-Kanzler Olaf Scholz hält daran auch weiter fest. Aus den Reihen des grünen Koalitionspartners kommt jedoch Kritik.
Der nun begonnene Konsultationsprozess mit den EU-Mitgliedstaaten soll rund zwei Wochen dauern. Mitte Januar will die Kommission dann den finalen Vorschlag vorstellen, der noch vom nun bekannt gewordenen Entwurf abweichen kann. Anschließend haben der Rat der Mitgliedstaaten und das EU-Parlament jeweils ein Veto-Recht.
Neuanfang mit der Brennstoffzelle

Grünen-Politiker und Umwelthilfe kritisieren den Vorstoß
Im EU-Parlament regt sich bereits Widerstand: "Der Vorschlag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist ein Schritt zurück", kritisiert der Grünen-Abgeordnete Rasmus Andresen. "Atom und fossiles Gas sind nicht zukunftsfähig."
Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke, beide von den Grünen, haben sich ablehnend zum Plan der EU-Kommission geäußert. "Die Vorschläge der EU-Kommission verwässern das gute Label für Nachhaltigkeit", sagte Habeck am Samstag der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. "Ausgerechnet Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, ist bei dieser Hochrisikotechnologie falsch", erklärte er am Samstag. "Es verstellt den Blick auf die langfristigen Auswirkungen für Mensch und Umwelt; der hochradioaktive Atommüll wird uns über Jahrhunderte belasten. Und es mangelt auch an harten Sicherheitskriterien", fügte Habeck hinzu. "Es hätte aus unserer Sicht diese Ergänzung der Taxonomie-Regeln nicht gebraucht. Eine Zustimmung zu denen neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht", sagte der Wirtschafts- und Klimaschutzminister.
Lemke sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe: "Ich halte es für absolut falsch, dass die Europäische Kommission beabsichtigt, Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten aufzunehmen". Eine Energieform, die zu "verheerenden Umweltkatastrophen" führen könne und große Mengen an gefährlichen hochradioaktiven Abfällen hinterlasse, "kann nicht nachhaltig sein".
Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) reagiert empört auf den Vorstoß. Damit würden "umweltschädliche Investitionen unter einem grünen Deckmantel ermöglicht", warnte die Organisation am Samstag. Die DUH attackierte wegen des Entwurfs auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD). Dieser habe sich offenbar "für die Aufnahme von fossilem Gas in die Taxonomie eingesetzt und dafür im Gegenzug den französischen Wunsch nach Aufnahme der gefährlichen Atomkraft unterstützt". DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner warf Scholz vor, er riskiere "die klimapolitische Reputation der Bundesregierung". Die EU-Kommission wiederum beschuldigte er, sie untergrabe mit dem Entwurf "die eigenen Klimaziele und den Green Deal insgesamt".