Es gibt keinen Wegweiser, der zum Massengrab führt. Der Pförtner des Sächsischen Krankenhauses Großschweidnitz schüttelt den Kopf. "Eine Gedenkstätte?" Er stutzt. "Ach, Sie meinen den Friedhof." Mit der Hand deutet er auf die Straße. "Hinter dem Haus geht ein schmaler Weg rein - der führt direkt zum Friedhof."
Neben dem eisernen Tor steht eine Tafel, die mit der Friedhofshecke kämpft. Die Zweige ragen über die goldenen Buchstaben. "Für die über 5000 Opfer der 'Euthanasie', die hier in Massengräbern ihre letzte Ruhe gefunden haben. Weil sie als Kranke 'anders' waren, wurden sie 'angekreuzt und aussortiert'".
In Großschweidnitz haben Ärzte während der NS-Zeit ihre Patienten ermordet. Die Mediziner schickten die Kranken zunächst per Meldebogen ins Gas. Nach dem offiziellen Stopp der Mordaktion 1941 wurde Großschweidnitz zum Zentrum der "wilden Euthanasie". Die Ärzte ließen ihre Patienten verhungern oder spritzen sie mit Medikamenten zu Tode. Die Gräber der Opfer liegen unter Rasen. Über den Massenmord ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras gewachsen.
"Beschluss über die vorzeitige Entlassung von Kriegsverurteilten"
Es war eine denkwürdige Sitzung, zu der sich der Ministerrat der DDR - heute vor 50 Jahren - am 22. Dezember 1955 traf. "Beschluss über die vorzeitige Entlassung von Kriegsverurteilten", stand als erster und wichtigster Punkt auf der Tagesordnung. "2.616 Kriegsverurteilte sind vorzeitig aus der Haft zu entlassen", verfügten die Minister zwei Tage vor Heiligabend. Die Aktion mit dem klangvollen Namen "Schmetterling" unterlag "erhöhten Sicherungsbestimmungen". Der Klassenfeind im Westen sollte offenbar nicht mitbekommen, dass die DDR, die sich der konsequenten Verfolgung von NS-Verbrechern rühmte, per Gnadenerlass entnazifizierte. "Eine Unterrichtung westdeutscher oder westberliner Polizeibehörden entfällt", hieß es in der "Arbeitsrichtlinie" der Schmetterlings-Aktion. Die Geheimhaltung war auch im Sinn der NS-Verbrecher. Sie konnten, wie das Beispiel des Euthanasie-Arztes Robert Herzer aus Großschweidnitz zeigt, im Westen unbehelligt Karriere machen.
Trotz Lungenkrankheit in den Staatsdienst
Herzer, ein schneidiger Typ mit markanten Gesichtszügen, tritt 1933 kurz nach der Machtübernahme Hitlers in die NSDAP ein. Er leidet unter einer chronischen Lungenkrankheit, die seine Anstellung in den Staatsdienst verzögert. Ab 1936 untersucht Herzer SA-Leute, erteilt ihnen Sanitätsunterricht. Im Jahr darauf wird er - womöglich als Dank für sein Engagement bei der SA - in den Staatsdienst übernommen.
Herzer arbeitet in der Irrenanstalt in Arnsdorf bei Dresden, geht dann nach Großschweidnitz. Er ist Stationsarzt im Haus 30 - dem berüchtigten Todeshaus. Herzer selbst sagt in späteren Vernehmungen: "Das Haus für 'schwerst niedergeführte und schwerst erregbare Kranke' war die Station 30... In diese Station habe ich diejenigen Kranken verlegt, die Sterbemedizin bekommen sollten".
Hinrichtungen wegen Medikamentenmangels
Kurz vor Kriegsende wird Herzer zum Medizinalrat berufen. Im Oktober 1945 nehmen russische Soldaten den Arzt fest. In seiner Vernehmung zeigt er keinerlei Unrechtsbewusstsein. Freimütig spricht der Arzt davon, dass die Patienten "hingerichtet" wurden: "Im Zusammenhang mit dem letzten Kriege war die Allgemeinheit gezwungen, nach allen Mitteln zu greifen, um die Kriegsführung und das Leben der Gesunden zu erleichtern. Zum Zwecke der Sparung von Lebens- und Heilmitteln mussten schwer- und unheilbar Kranken hingerichtet (sic) werden, um anderen Platz zu machen... In meiner Station starben auf diese Art in der ganzen Zeit ca. 100 Menschen".
Im Juli 1947 wird Herzer vom Landgericht Dresden zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Arzt geht in Revision, erreicht, dass seine Strafe auf zwölf Jahre reduziert wird. Der Ministerratsbeschluss schenkt dem Euthanasie-Arzt nach zehn Jahren die Freiheit. Die Geheimhaltung der Freilassungs-Aktion sorgt dafür, dass der Arzt im Westen wieder Karriere machen kann, wie Recherchen von stern.de erstmals belegen.
"Gerichtliche Strafen: keine"
Herzer, der als Häftling im Gefängniskrankenhaus Klein-Meusdorf bei Leipzig seit 1954 wieder als Arzt eingesetzt wird, geht in nach seiner Freilassung in den Westen. Beim Technischen Überwachungsverein Baden e.V. findet er einen neuen Job. Der Arzt hilft als freier Mitarbeiter beim Aufbau des des medizinisch-psychologischen Institutes in Mannheim. Das Institut beschäftigt sich mit der Frage, ob jemand, der beim dritten Mal durch die Führerscheinprüfung gefallen ist, überhaupt geeignet ist, Auto zu fahren. Dem TÜV verschweigt der Arzt seine NS-Vergangenheit. "Gerichtliche Strafen: keine", steht unter § VII in Herzers Personalbogen, den der Arzt unterschrieben hat. "Die Personalakte weist ausschließlich Zeugnisse auf, die die Leistungen von R. Herzer würdigen", schreibt die Presseabteilung in einer Stellungnahme an stern.de. "Insofern muss die TÜV SÜD AG heute davon ausgehen, dass dem TÜV Baden e.V. seinerzeit von Vorstrafen des R. Herzer nichts bekannt war".
Nachdem Herzer seine Biographie geschönt hat, steht seiner zweiten Karriere als Arzt nichts mehr im Wege. 1960 wird er fest angestellt, steigt zum Abteilungsleiter der drei TÜV-Institute in Mannheim, Karlsruhe und Freiburg auf. Seine Vorgesetzten loben seinen "großen persönlichen Einsatz". "Unter seiner Leitung haben die medizinisch-psychologischen Institute des TÜV Baden eine stetige Aufwärtsentwicklung erfahren." Den fehlenden Doktortitel kaschiert Herzer mit der Berufsbezeichnung "Leitender Arzt". Außerdem führt er noch immer den Titel "Medizinalrat a.D", dem ihn die Nazis verliehen haben.
Ein fürsorglicher Vorgesetzter
Am 11. November 1969 stirbt Herzer "plötzlich und unerwartet" mit 59 Jahren "während der Ausübung seines Dienstes" in Mannheim. "Wir nehmen Abschied von einer verdienten Mitarbeiter, Kollegen und fürsorglichen Vorgesetzten", schreibt der TÜV Baden in seiner Todesanzeige. Vorstand, Geschäftsführung und Belegschaft des TÜV Baden geloben: "Sein Andenken werden wir stets in Ehren halten." Herzer wird auf dem Hauptfriedhof in Mannheim beerdigt.
Über 5700 Menschen liegen in den Massengräbern von Großschweidnitz. Historiker gehen inzwischen sogar von über 8000 Toten aus. Das sind fünf Mal soviel Einwohner, wie heute in dem kleinen Ort bei Löbau wohnen. Auf ihrer Homepage im Internet erwähnt die Gemeinde die Opfer mit keinem Wort. Dass, was während der NS-Zeit in Großschweidnitz geschehen ist, fassen die Stadtväter in einem Satz zusammen: "1937 erfolgte der Zusammenschluß der beiden Gemeinden Groß- und Kleinschweidnitz zur Gemeinde Großschweidnitz mit einer zentral gelegenen Gemeindeverwaltung."