Bombenkrieg Barbarisch, aber sinnvoll

Der britische Historiker Richard Overy zum Streit um die Bombardierung deutscher Städte im Zweiten Weltkrieg: Womöglich seien so Atombomben auf Berlin verhindert worden.

Mythen und Missverständnisse prägen das Bild des Bombenkrieges der Alliierten gegen Deutschland in den Jahren 1940 bis 1945. Nach Kriegsende wurde zwar diskutiert, wie effektiv der Bombeneinsatz war - aber nicht, ob es richtig oder falsch war, Städte zu bombardieren. Lange blieb die Frage unbeantwortet, welches Leid die Bombardements tatsächlich über die deutsche Zivilbevölkerung gebracht haben.

Das Schweigen ist nun gebrochen worden. Der Historiker Jörg Friedrich hat ein viel beachtetes Buch geschrieben, das als erste umfassende Darstellung eines langen Krieges gegen deutsche Zivilisten angepriesen wird. Schon Friedrichs Sprache zeigt die tiefe moralische Entrüstung. Bombenangriffe werden als "Massaker" beschrieben; die Kriegsabsichten der Alliierten als vorsätzlicher Massenmord an der deutschen Bevölkerung. Seine schärfste Kritik richtet sich gegen die britische Strategie, mit Tausenden kleinen Brandbomben riesige Feuer zu entfachen. Die Bombardements hätten einen Scheiterhaufen aus deutschen Städten und ihren Kulturgütern gemacht - "die größte Bücherverbrennung aller Zeiten", wie Friedrich in Anspielung auf die Bücherverbrennung der Nazis 1933 schreibt.

Friedrich greift Churchill an


Friedrich greift vor allem den britischen Kriegspremier Winston Churchill an. Ihm wirft er vor, seit dem Ende des Ersten Weltkriegs die Idee eines vernichtenden Schlages gegen die deutsche Bevölkerung mit sich herumgetragen zu haben - und im Zweiten Weltkrieg dann die Royal Air Force zum Bombardement der Städte gedrängt zu haben. Churchill ist Großbritanniens Kriegsheld. Aber war er auch ein Kriegsverbrecher, der ohne zwingenden Grund die Traditionen und Regeln zur Zähmung des Krieges missachtete?

In der modernen Welt ist die Sensibilität für Fragen der Kriegführung gestiegen. Entscheidend aber ist die historische Situation. Die Bedingungen 1940 waren völlig anders als heute. Der Einsatz von Bomben stellte sich als grausam und uneffektiv heraus, weshalb alle Staaten in den dreißiger Jahren davon ausgingen, der nächste Krieg würde ein "totaler Krieg" sein. Es war US-Präsident Franklin Roosevelt, nicht Churchill, der die Bomben damit rechtfertigte, dass die einzige Verteidigung gegen nackte Gewalt nackte Gewalt sei.

Beide Staaten, Großbritannien und die USA, machten sich einen moralischen Relativismus zu Eigen: Wenn Deutschland Zivilisten aus der Luft angriff, dann würden sie es auch tun. Die Zerstörung Warschaus und Rotterdams durch die Deutschen wurde im Westen als klares Signal verstanden, dass Deutschland nicht die Absicht hatte, irgendwelche Rücksichten zu nehmen. "The Blitz" - der Luftkrieg gegen Großbritannien - tötete 1940 und 1941 etwa 40 000 Zivilisten, was wahrscheinlich die höchste Zahl ziviler Kriegsopfer in Europa bei einer einzigen Operation seit dem 17. Jahrhundert war. Für den Westen war es der letzte Beweis, dass Gleiches mit Gleichem beantwortet werden müsse. Als Alternative wäre nur geblieben, die andere Wange hinzuhalten. Aus der Situation eines Krieges, in dem es ums Überleben ging, lässt sich leicht erklären, warum sich Deutschlands Kriegsgegner nicht dafür entschieden.

Friedrichs Annahmen sind schlicht falsch


Der Kern von Friedrichs Argumentation ist, dass der Bombenkrieg militärisch sinnlos war. Ein strategisches Fiasko, das die Alliierten viele Flugzeuge und Soldaten gekostet - und dabei weder die deutsche Wirtschaftskraft gebrochen noch die deutsche Bevölkerung demoralisiert habe. Aus dieser Perspektive lässt sich der Bombenkrieg als mörderische Kampagne zur Vertreibung oder Vernichtung der Stadtbevölkerung betrachten. Nur sind Friedrichs Annahmen schlicht falsch.

Ohne Frage waren die Bomberflotten ein stumpfes, wenig präzises Instrument. Auch hätten die Planer der Alliierten sorgfältiger über ihre Ziele nachdenken sollen.

Dennoch wurden die deutschen Kriegsanstrengungen durch die Bomben massiv beeinträchtigt. Im Laufe des Krieges wurden den Truppen an der Front Flugzeuge und Luftabwehrwaffen entzogen. Ende 1943 wurden zwei Drittel der deutschen Kampfflugzeuge in Deutschland eingesetzt, im Herbst 1944 waren es über 80 Prozent. Als die Schlagkraft der alliierten Luftflotten stieg, sank die deutsche Produktion an Bombenflugzeugen, die sich als wesentlich für den Erfolg der Wehrmacht am Boden erwiesen hatte.

Effekt addierte sich


Der Bombenkrieg drosselte zudem die Versorgung deutscher Bodentruppen mit Material aller Art. Ein Drittel der Artillerie wurde für die Luftverteidigung benötigt, ebenso ein Fünftel aller Granaten sowie die Hälfte der elektrotechnischen Produktion. Der Effekt der britischen und amerikanischen Bomben auf die Produktion addierte sich - es war eine endlose Kette kleiner Störungen im Fluss der Komponenten oder bei der Lieferung fertiger Waffen. Hinzu kam 1944 der Verlust von etwa einem Drittel der Produktion von Panzern, Flugzeugen und Lastwagen. Die Fertigung konnte zwar durch Evakuierung und Verteilung fortgesetzt werden, aber dadurch sank die Effizienz, und Millionen Menschen mussten die Gebiete verlassen, in denen ihre Arbeitskraft gebraucht wurde. Es gibt keine zuverlässigen Schätzungen über die gesamten Folgen des Bombenkrieges für die deutsche Kriegsmaschinerie, aber 1944 erreichte wohl nur noch die Hälfte des zur Kriegführung benötigten Materials die Truppen.

Natürlich trifft Friedrichs Argument zu, dass die deutsche Kriegsproduktion bis 1944 gestiegen sei. Aber das ist eine statistische Illusion. Im letzten Jahr stützte sich die Industrie auf Improvisation, die Plünderung von Lagerbeständen und die immer grausamere Ausbeutung von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen. Man muss sich vorstellen, wie die deutsche Kriegsindustrie ohne die Bombardements ausgesehen hätte. Sie hätte weit mehr produzieren können.

Deutschland hätte länger Widerstand leisten können. Ein mögliches Ergebnis wäre ein neuer Stellungskrieg gewesen. Eine Pattsituation, in der Deutschland zwar nicht gewinnen, aber in der es auch nicht besiegt werden kann von den erschöpften Sowjetarmeen und den westlichen Staaten, die nicht bereit sind, länger hohe Verluste hinzunehmen. Um den Krieg zu beenden, hätten sich die USA dann möglicherweise zum Einsatz von Atombomben auf München oder Berlin entschlossen.

Weder Großbritannien noch die Vereinigten Staaten hatten den Zweck der Bombardements aus dem Blick verloren. Ihr vorrangiges Ziel war es, einen Sieg ihrer Landstreitkräfte innerhalb einer Zeit und mit Verlusten zu ermöglichen, die die Bevölkerung ihrer Länder akzeptieren konnte. Dieses Ziel wurde erreicht, wenn auch mit dem massiven Verlust an Menschen und Kulturgütern, den Friedrich so plastisch beschreibt.

Die größte Fehleinschätzung vieler Militärs war die Erwartung, dass der Bombenkrieg eine politische Krise im Land des Gegners und damit ein Ende der Kämpfe herbeiführen würde. Zweifellos fühlten sich viele Deutsche elend und demoralisiert, aber sie waren - wie Friedrich schreibt - mehr daran interessiert Reisen zu ihren durch Kriegsfolgen zerstreuten Verwandten zu organisieren als eine Revolution. Vor allem aber waren die meisten Deutschen während der ganz überwiegenden Zeit keinen Luftangriffen ausgesetzt.

Der Albtraum traf ausgewählte Städte


Der Albtraum des Bombenkrieges traf ausgewählte Städte und dort überwiegend die Arbeiterviertel. Der Rest Deutschlands, wo die übrigen 50 Millionen lebten, wurde nur eher zufällig und selten getroffen.

Es gab viele Gründe für die Entschlossenheit der Amerikaner und Briten, die Bombardements fortzusetzen. Unter anderem ging es darum, die Sowjetunion im Krieg zu halten. Der Sieg war eine unbedingte Notwendigkeit. Dies führte dazu, dass die Luftstreitkräfte Dinge getan haben, die ein Heer niemals tun würde. Montgomery wäre nie in Hamburg einmarschiert und hätte seinen Soldaten befohlen, 40 000 Männer, Frauen und Kinder abzuschlachten. Auf beiden Seiten schuf die Bombenwaffe eine besondere Moral.

Weder vorsätzlicher Massenmord noch Massaker


Der Einsatz von Bomben machte den Krieg barbarischer; nach wie vor ist er eine barbarische Strategie. Aber es war weder vorsätzlicher Massenmord noch ein Massaker. Niemals ging es um Terror als Selbstzweck, auch wenn die Folgen zweifellos schrecklich waren. Die Bomben haben die deutsche Wirtschaft nicht zerstört, aber Deutschland daran gehindert, zu einer unbesiegbaren Supermacht zu werden. Sie haben den Durchhaltewillen der Bevölkerung nicht gebrochen, aber doch der Mobilisierung im Lande selbst Grenzen gesetzt. Aus der Sicht des 21. Jahrhunderts mag dies als unzureichende Rechtfertigung erscheinen - 1945 schien die völlige Niederwerfung von Hitlers Deutschland Rechtfertigung genug zu sein, um bis zum Äußersten zu gehen.

Overy ist Professor am King‘s College, London. 2001 erschien sein Buch "Die Wurzeln des Sieges" (DVA)

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Richard Overy