Es war Zufall, dass dieser Termin auf den Vorabend des israelischen Großangriffs auf Gaza-Stadt fiel: Der Festakt zur Wiedereröffnung der historischen Synagoge in der Münchener Reichenbachstraße, errichtet 1931, und nur sieben Jahre später zerstört von den Nazis. Doch dieser Zufall hat nun zu einer Gleichzeitigkeit von Schlagzeilen geführt.
"Gaza brennt", zitieren die Nachrichtenseiten Israels Verteidigungsminister und berichten von unablässigem, nächtlichen Bombardement der größten Stadt des Gazastreifens, Zuflucht von 900.000 Zivilisten, viele gezeichnet von Hunger und mehrfacher Vertreibung.
Daneben: Das Video des Bundeskanzlers, tränenerstickt, am Rednerpult in München. "Sie haben in einem Ihrer Bücher geschrieben, dass Sie als Kind immer wieder eine Frage stellten", sagt Merz zu Rachel Salamander, Tochter von Holocaust-Überlebenden und Initiatorin des Synagogen-Wiederaufbaus. "Ob denn den Juden niemand geholfen habe?"
Israels Krieg im Gazastreifen mit Nazi-Deutschlands Vernichtungskrieg gegen die Juden gleichzusetzen, verbietet sich.
Was sich nicht verbietet, was Empathie und Menschlichkeit vielleicht sogar gebieten: darüber nachzudenken, was die Lehren aus Deutschlands Geschichte angesichts der Wirklichkeit 2025 für eine Bedeutung haben. In einer Zeit, in der tausende Kinder im Gazastreifen ihren Eltern dieselbe Frage stellen wie damals die kleine Rachel Salamander – warum denn niemand etwas tue.
Nur: Wer weint schon um Gaza?
Netanjahu setzt das Leben der israelischen Geiseln aufs Spiel
Der Angriff auf Gaza-Stadt ist weder verhältnismäßig noch militärisch sinnvoll. Darin sind sich führende israelische Militärs und renommierte Völkerrechtler einig. Außerdem setzt Israels Premier Benjamin Netanjahu damit auch das Leben der wohl noch etwa 20 Israelis auf Spiel, die seit über 700 Tagen die Geiselhaft der Hamas erduldet und überlebt haben.
Man darf davon ausgehen, dass auch Friedrich Merz das so ähnlich sieht. Schließlich hat er vor gut einem Monat die Entscheidung, Deutschlands Waffenlieferungen an Israel einzuschränken, auch mit der angekündigten Offensive auf Gaza-Stadt begründet.
Mehr Druck aber ist von Deutschland vorerst nicht zu erwarten. Obwohl wichtige Partner aus Europa darauf drängen: Die Franzosen, die Niederländer und sogar die Dänen wollen wegen des brutalen Vorgehens in Gaza erstmals Sanktionen gegen Israel verhängen. Es geht um Millionen-Zuschüsse der EU für Wissenschaftskooperationen. Die zu streichen, wäre zwar nur ein symbolischer Akt. Aber gleichzeitig ein Signal der Geschlossenheit aus Europa. Das dürfte Israels Regierung beeindrucken, steht wegen des Gaza-Kriegs doch auch das wichtige Assoziierungsabkommen mit der EU auf dem Prüfstand.
Doch Deutschland bremst. Die geplante Maßnahme hätte keinen Einfluss auf das Kriegsgeschehen, erklärt Merz' Vertrauter, Außenminister Joachim Wadephul. Dabei müssten der Kanzler und sein Minister es besser wissen.
Der verrutschte moralische Kompass der Union
Merz' Entscheidung Anfang August, keine deutschen Waffen, die in Gaza eingesetzt werden können, zu liefern, zeigte tatsächlich Wirkung in Israel. In den Wochen seither hat die Regierung in Jerusalem deutlich mehr Lebensmittel nach Gaza hineingelassen als in den Monaten zuvor. Druck aus Deutschland wirkt in Israel. Und das ist kein Wunder: Nach den USA ist die Bundesrepublik Israels wichtigster Partner, nicht nur bei der Lieferung an Waffen.
Der Grund für die Zurückhaltung des Kanzlers in Sachen Gaza könnte ein anderer sein: Er kann sich in Sachen Israel auf den Rückhalt der eigenen Partei nicht ganz verlassen. Für die Waffenexport-Entscheidung erntete Merz eine teils offenen Revolte in den eigenen Reihen. Erst vergangene Woche konnte man bei einer Bundestags-Anhörung unter Vorsitz der CDU-Frau Mechthild Heil in Berlin erleben, wie Abgeordnete die Berichte zweier Ärzte in Zweifel zogen, die nach monatelangem Einsatz in Gaza unter anderem von gezielten Kopfschüssen israelischer Truppen auf Kinder berichteten.
Es scheint an der Zeit, dass der Kanzler solche Kolleginnen und Kollegen aus den eigenen Reihen zur Rede stellt und den moralischen Kompass seiner Partei mit Blick auf Israel wieder in Einklang mit dem Völkerrecht bringt – und dem großen "C", das eben für "christlich" steht, im eigenen Parteinamen. Damit würde er dem Empfinden einer Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, das zeigen Umfragen, Rechnung tragen. Bis hinein in die bürgerliche Mitte verfolgen viele Deutsche den Israel-Kurs der Union mit wachsendem Befremden. Und Israels unablässige Eskalation in Gaza mit blankem Entsetzen.
Deutschland ist Israel und seiner Sicherheit aus gutem Grund besonders verpflichtet. Das sei Staatsräson, so formulierte es Angela Merkel einst zurecht. Aber in Gaza steht schon lange nicht mehr Israels Existenz auf dem Spiel. Auf dem Spiel stehen: das Leben von zehntausenden Zivilisten. Die politische Zukunft von Premier Benjamin Netanjahu und seinen ultrarechten Partnern. Und auch: Deutschlands Ansehen und Glaubwürdigkeit.