Stern-Chefredakteur Kleine Auszeiten und ein Plädoyer für das beherzte Eintreten für die Demokratie – Gregor Peter Schmitz über den neuen stern

stern-Cover "Durchatmen – 33 kleine Auszeiten: in den Bergen, am Wasser und zu Hause"
Der neue stern "Durchatmen – 33 kleine Auszeiten: in den Bergen, am Wasser und zu Hause"
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Zum Jahreswechsel blickt auch stern-Chefredakteur Gregor Peter Schmitz auf das Jahr zurück. Sein Fazit: Die Demokratie hat 2023 gelitten – und es ist an uns Bürgerinnen und Bürgern, sie 2024 wieder besser zu pflegen.

2024 könnte ein großes Jahr für die Demokratie werden. Sehr viele Wahlen stehen für sehr viele Menschen an; rund ein Fünftel der Weltbevölkerung stimmt über ihre jeweilige Regierung ab. In Russland wird ein neuer Regierungschef gewählt, in Indien auch, und die Amerikaner gehen im November an die Urne. Werden wir in den kommenden zwölf Monaten also schwungvoll die Demokratie-Verdrossenheit mindern?

Leider sind die Aussichten dafür schlecht, so ungern ich derart pessimistisch zum Jahreswechsel schreibe. Denn die erwähnten Wahlen stehen unter einem gemeinsamen Vorbehalt: Wie demokratisch sind sie wirklich?

In Russland lässt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Kriegsherr Wladimir Putin erneut zum Zaren krönen; mögliche Widersacher sind tot oder eingesperrt.

Indien ist zwar stolz darauf, die größte Demokratie der Welt zu sein, doch an der Wiederwahl des straff regierenden Premierministers Narendra Modi zweifelt niemand.

Und in den USA könnte ein Mann ins Weiße Haus zurückkehren, der aus seiner Verachtung für die Demokratie keinen Hehl macht und der schon angekündigt hat, zumindest für einen Tag wolle er Diktator sein. Kein Scherz.

"Die da oben" sind Schuld – damit machen wir es uns zu einfach

Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen derer, die am demokratischen System zweifeln. Immer weniger Menschen haben etwa das Gefühl, ihre politische Meinung frei äußern zu können; das geht aus einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach und des Medienforschungsinstituts Media Tenor hervor. Demnach hat die gefühlte Meinungsfreiheit in der Bevölkerung den tiefsten Stand seit den 1950er-Jahren erreicht. Und im Institutionenranking, das die Meinungsforscher von Forsa regelmäßig durchführen, genießt die Institution "Bundeskanzler" nur noch bei 20 Prozent der Bundesbürger Vertrauen. Vor 15 Jahren waren es 75 Prozent. Anhänger der AfD, das weist die Umfrage auch aus, trauen so gut wie niemandem mehr.

Sollen wir deswegen die Demokratie aufgeben? Moment! Schon Winston Churchill wies darauf hin, Demokratie sei die schlechteste Regierungsform, abgesehen freilich von allen anderen. Ich mag auch nicht mehr hören, "die da oben" seien an allem schuld. Eher halte es ich es mit dem weisen Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde. Der sagte einst, der freiheitliche Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne. Das sei das Wagnis, das er zugunsten der Freiheit eingegangen sei. Die Grundlagen für ein demokratisches Zusammenleben, den sozialen Kitt also, müssen wir Bürgerinnen und Bürger schaffen, jeden Tag. Diese Aufgabe nimmt uns niemand ab.

Journalisten sollten sich nicht selbst feiern, auch wenn wir dazu eine Neigung haben, denn wir sind eitle Menschen. Man kann aber schon feiern, wenn Journalismus ausgezeichnet ist. Deswegen freue ich mich sehr, dass etliche Kolleginnen und Kollegen aus unserem Haus unter die "Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2023" gewählt wurden: unser GEO-Kollege Dirk Steffens als "Wissenschaftsjournalist des Jahres", das Investigativ-Team von RTL und stern für seine Recherche zu den Arbeitsbedingungen in der Tesla-Fabrik in Brandenburg, unser stern-Kolumnist und ntv-Moderator Micky Beisenherz in der Unterhaltungssparte sowie die Reporterinnen Sophia Maier und Birte Meier. Glückwunsch!

Ich wünsche Ihnen, dass 2024 ein gutes, ein besseres Jahr wird!

Erschienen in stern 1/24

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