Ein kalter Dezembernachmittag am Stadtrand von Berlin. Wind treibt Nebelschwaden über den Wannsee. In der Bibliothek des 1886 erbauten Herrenhauses am Ufer hat Anne-Marie Slaughter Platz genommen. Seit September ist sie Holbrooke-Fellow der American Academy in Berlin, die hier residiert. Slaughter, 65, ist eine bedeutende Vordenkerin amerikanischer Außenpolitik. Und eine streitbare Feministin. Von 2009 bis 2011 war sie Stabschefin der damaligen US-Außenministerin Hillary Clinton. Das Gespräch mit dem stern soll ihr einziges Interview während der Zeit in Deutschland sein. Thema: die Zukunft der transatlantischen Beziehungen. Die stehen vor größeren Herausforderungen als je zuvor.
Professor Slaughter, Sie sind seit mehreren Monaten hier in Deutschland. Wie erleben Sie die Stimmung?
Die schreckliche Lage in der Ukraine, der Krieg zwischen Israel und der Hamas, die Verunsicherung, die das Vordringen der künstlichen Intelligenz auslöst: Diese Dinge prägen die Stimmung auf beiden Seiten des Atlantiks. Viele beschleicht das Gefühl, dass uns die Kontrolle entgleitet. Aber dazu kommt etwas, das ich nur hier in Deutschland wahrnehme: ein Gefühl des Ausgesetztseins. Dass Deutschland und Europa nach einem Wahlsieg von Donald Trump 2024 allein für die Ukraine verantwortlich sein könnten, wirtschaftlich und militärisch, macht vielen hier Angst.
Noch im Februar versprach Joe Biden in Warschau: "America is back". Hat er damit zu Unrecht Hoffnungen geweckt?
Nein. Genau diesen Eindruck wollte er vermitteln. Er hatte allen Grund, optimistisch zu sein. Er hatte sein großes Konjunkturprogramm durchbekommen. Er war dabei, die Inflation zu zähmen. Es gab dieses Gefühl: Wir bekommen die Dinge in den Griff. Die Lehre dieses Jahres ist: Das war eine Illusion. Biden stammt aus einer Ära, in der es in der Weltpolitik viel erwartbarer zuging. Er hat sich in vielerlei Hinsicht dafür eingesetzt, dass es wieder so wird. Und damit einen Nerv getroffen bei vielen, die sich nach diesen alten Verhältnissen sehnen …