Es roch nach Tod vor meinem provisorischen Büro. Ich hatte mich zum Schreiben über Nacht zurückgezogen, denn beim stern in Hamburg erwartete man am nächsten Morgen mein Stück aus dem Erdbebengebiet in der Türkei. Damals, im Februar 2023, begleitete ich eine Gruppe deutscher Bestatter, man könnte auch etwas ehrfürchtiger sagen: die Retter der Toten. In der zerstörten Stadt Kahramanmaraş halfen sie, die vielen Verstorbenen aus den Trümmern zu bergen und sie auf ihr Begräbnis vorzubereiten.

Ich kam mit ihnen in einer Sporthalle unter, durch deren Wände sich Risse zogen, was uns behördlicherseits aber dennoch als ungefährlich verbrieft wurde. Wir schliefen auf Feldbetten im Raum der Fechter. Auf dem Linoleumboden der Halle hatten noch kurz davor die Toten gelegen. Dort also saß ich nun und hackte in meinen Laptop. In der Nase dieser Geruch, der gemeinhin als beißend-süßlich-faulig beschrieben wird, der aber noch viel schlimmer ist – und im Kopf all die bedrückenden Szenen dieses Ortes.
Wie ich vor den Resten eines mehrstöckigen Hauses eine Frau traf, Mitte zwanzig vielleicht, die mir ein Paar Kleinkinderschuhe entgegenstreckte. Es waren einmal ihre eigenen gewesen. Mehr als das und ein Hochzeitsalbum ihrer verschütteten Eltern war ihr nicht geblieben.
Wie Menschen, die wirklich alles verloren hatten – menschlich wie materiell – mich in der Schlange der Suppenküchen vorließen, mir Zigaretten zusteckten. Weil ich doch ihr Gast sei. Mir war das furchtbar unangenehm.
Wie ich in einer Zeltstadt für Zehntausende einem Mädchen in die verheulten Augen sah, mir vorstellte, was passiert sein mag – die Geschwister tot, das Kinderzimmer ein Trümmerhaufen aus Beton und Plastik? – und wie ich selbst hemmungslos losheulte in diesem Moment, weil sich all die Emotionen ihren Bahn brachen, die sich in den Tagen zuvor in mir angestaut hatten. Es stellte sich dann heraus: Das Mädchen weinte wegen eines kaputten Luftballons.
Ich kann heute, genau ein Jahr später, über diesen Moment lachen. Doch die Tage in Kahramanmaraş haben mich nicht mehr losgelassen. Sie waren die härtesten meines Reporterlebens. Vielleicht nicht beruflich. Aber menschlich. Das volle Ausmaß an Leid und Zerstörung ist kaum in Worte zu fassen und in Bilder zu packen. Es zeigt sich erst, wenn man mitten in den Trümmern steht.

So konnte der stern dank Ihrer Spenden helfen
Gut 120.000 Euro spendeten stern-Leser im vergangenen Jahr für die Erdbebenopfer in Syrien und der Türkei. Etwa 40.000 Euro gingen davon an "Ärzte ohne Grenzen“, die Organisation leistet vor allem medizinische Nothilfe. Sie stellte medizinisches Personal in 32 syrischen Kliniken und Versorgungsstationen, versorgte ein Krankenhaus im türkischen Kahramanmaraş mit einem Röntgengerät und lieferte Unmengen an Hilfsgütern: Fast 100 Tonnen Früchte und Gemüse, 51 Tonnen Feuerholz, insgesamt 12,3 Millionen Liter Wasser, gut 38.000 Laib Brot und fast genauso viele Decken. Auch "medico international“, ein weiterer Partner der Stiftung stern, versorgte durch lokale Partner vor Ort die Betroffenen in Notlagern, half mit psychologischen Gesprächen, machte Lager in Syrien winterfest unterstützt den Wiederaufbau in kurdischen Dörfern der Südosttürkei, die vom Staat kaum Hilfe erhalten hatten.
Auch wir kehren zu oft nicht mehr zurück
Damals hatte ich mir geschworen, zurückzukommen, was nicht immer leicht ist als Journalist: In unseren Telefonbüchern und Kontaktlisten sammeln sich so viele Namen und Nummern, die wir von Reisen nachhause nehmen. Unmöglich, immer und mit jedem Kontakt zu halten. Und doch schauen wir zu oft zu schnell weg. Weil Krisen sich überlagern, Kriege sich abnutzen, Katastrophen in Vergessenheit geraten.
Zum Jahrestag des Erdbebens in der Türkei und Syrien bin ich deshalb zurück nach Kahramanmaraş geflogen. Für mich war das mehr als nur ein Reporterauftrag. Es war auch eine ganz persönliche Reise. Wie hat sich diese Stadt wohl verändert, seit ich zum letzten Mal dort war?
In der Turnhalle von damals riecht es heute nicht mehr nach Verwesung, sondern nach Schweiß. Dienstagabends trainiert dort nun eine Handballmannschaft. Und auch sonst geht das Leben in gedimmter Form weiter. In Restaurants aß ich nun alle erdenklichen Lamminnereien. Auf dem Bazaar kaufte ich mir eine türkische Teekanne als Andenken. Ich schlief in einem echten Hotelbett. Doch schaute ich aus dem Fenster meines Zimmers, sah ich noch immer eine Trümmerwüste. Und das verwunderte mich.
Die Suche nach den Toten wurde damals abgebrochen
Im Februar 2023 war die Hilfe der deutschen Bestatter an Tag 14 nach dem Beben jäh abgebrochen worden. Die Behörden hatten angeordnet, die Suche nach Toten einzustellen. Die Bagger sollten nun nicht mehr die Körper freigraben. Sie sollten den Schutt aus der Stadt bringen, um schnellstmöglich mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Eine niederschmetternde Entscheidung, suchten doch noch viele nach ihren Angehörigen.
Doch in den zwölf Monaten danach scheint kaum etwas passiert zu sein. Ganze Straßenzüge gleichen noch immer einem Steinbruch. Zehntausende obdachlos gewordene Stadtbewohner haben inzwischen zwar keine Zeltplane mehr über dem Kopf, aber immer noch nur ein Containerdach. Die Regierung Recep Tayyip Erdoğans hinkt mit dem Bau neuer Wohnungen weit hinterher. Kahramanmaraş liegt noch immer am Boden. Seine Bauten, seine Bewohner.

Wir sprachen mit Menschen, denen ihre Traumata auch ein Jahr später den Schlaf rauben. Mit Özmen, 21, der sich – seit er seine Mutter beim Beben verlor – nicht mehr in mehrgeschossige Häuser traut. Mit Zekirija, der unter der Theke seines Blumenladens plötzlich eine Box voller Schlüssel rauskramte. Sie gehören den Toten aus dem eingestürzten Nachbargebäude. Vielleicht vermisse sie ja doch noch wer, sagte er bitter. Und mit Hatun Soya, einer alten Frau im abgeschiedenen Dorf Söğütlü.
Ihr Mann und ihre Mutter sind der Katastrophe zum Opfer gefallen, ihre Habseligkeiten zertrümmert, all ihre Hoffnungen begraben. Stundenlang erzählte sie von ihrem Leid. Ich spürte den Schmerz in ihren Augen. Dann, unter Tränen, sagte sie: "Ich schaffe das alles nicht allein." Zurück in Deutschland denke ich oft an Hatun Soyas Worte. Zum Abschied habe ich ihr versprochen, wiederzukommen. Irgendwann. Hoffentlich.