Der Nahostkonflikt ist längst zu einem Propaganda-Krieg geworden. Auf X (ehemals Twitter), Instagram, aber besonders auf Tiktok finden sich dazu abertausende Videos. Augenzeugenberichte aus dem Gazastreifen, von Zivilisten und Soldaten, reihen sich an unterhaltende Inhalte und Verschwörungserzählungen der Kriegsparteien. Warum ist das Medium Tiktok so zentral für die Verbreitung von Kriegspropaganda geworden?
Marcus Bösch ist Medienwissenschaftler und forscht an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg zu Desinformationskampagnen in Online-Medien. Er beschäftigt sich schon seit einigen Jahren mit der Plattform Tiktok. Wie bereits beim Krieg in der Ukraine ist die Propaganda im Nahostkonflikt Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit. Ihn verwundert es nicht, dass auf Tiktok so viele Beiträge zu diesem Thema auf der Plattform zu finden sind, wie er im Gespräch mit dem stern erklärt:
"Tiktok spielt eine große Rolle bei der Verbreitung von Propaganda und Falschinformationen; zunächst schlicht und ergreifend weil die Plattform laut eigenen Angaben von 1,6 Milliarden Menschen genutzt wird." Die schiere Größe bietet also die Möglichkeit, sehr viele Menschen in kurzer Zeit zu erreichen. Beiträge für die videobasierte Plattform zu erstellen, ist dabei deutlich einfacher als für andere Soziale Netzwerke – sie können dementsprechend auch genutzt werden, um schnell und einfach propagandistische Inhalte in Umlauf zu bringen.
Nahostkonflikt ist zum Propaganda-Krieg auf Tiktok geworden
Auf der chinesischen Plattform, die ursprünglich mal für kurze Tanzvideos oder Sketche bekannt wurde, verbreiten sich Clips rasend schnell. Innerhalb weniger Stunden können sie Millionen von Nutzern erreichen und die Sicht auf den Krieg in der Öffentlichkeit maßgeblich prägen. Grund hierfür ist auch die Struktur von Tiktok. Im Gegensatz zu Instagram, Twitter oder Facebook folgt diese nicht mehr dem Prinzip eines Sozialen Netzwerks. Es sei die erste Plattform, die komplett Algorithmus-getrieben sei und sich losgelöst habe vom ursprünglichen Social-Media-Konzept "ich folge Nutzern und sie folgen mir", erklärt Bösch.
So werden Inhalte zum Krieg in Nahost auch an Nutzer ausgespielt, die vorher kein sonderliches Interesse an dem Thema gezeigt haben, weil die Beiträge polarisieren. Um möglichst viele Menschen mit den eigenen Propaganda-Inhalten zu füttern, setzen Israel und die Hamas auf unterschiedliche Strategien.
In seinem Projekt "Wartok" hat Bösch zu Beginn des Ukraine-Krieges Tiktok-Beiträge Russlands und der Ukraine analysiert. Nun sieht er Parallelen im Krieg zwischen Israel und der Hamas: "Ein israelisches Beispiel für Propaganda sind sehr junge, tanzende, gut aussehende Soldatinnen – ein riesiges Phänomen. Diese Frauen werden offenbar vom IDF angestachelt, solche Videos zu drehen." Der Grund für solch eine Art von unterhaltender Kriegspropaganda liege auf der Hand, so der Wissenschaftler: "Von den tausenden zivilen Opfern, die in Gaza unter erbärmlichen Umständen ums Leben kommen, redet plötzlich niemand mehr, wenn man darüber diskutiert, warum Soldatinnen im Krieg offenbar freudig tanzen." Eine Charmeoffensive und ein perfektes Ablenkungsmanöver, so Bösch.
Israel nimmt sich offenbar Ukraine zum Vorbild
Direktes Vorbild könnte die ukrainische Armee nach der Invasion der russischen Streitkräfte sein. Auch hier wurden sehr früh Videos von tanzenden Soldaten in Umlauf gebracht mit einer klaren Botschaft: "Wir haben keine Angst. Wir sind sogar so entspannt, dass wir noch Tanzvideos auf dem Schlachtfeld drehen können." Diese Botschaft war der Ukraine genauso dienlich wie sie es nun den Israelis ist.
Hinzu kommen Videos, die die israelischen Truppen als heroische, moderne und konzentrierte Soldaten zeigen. Sie nehmen den Angriff der Hamas ernst, wirken aber vollkommen sieges- und selbstsicher. Immer wieder ist die hochmoderne Ausrüstung der Armee zu sehen, von Kampfjets bis hin zu Panzern, die nahezu unbesiegbar wirken.
Hamas greift Israel an – eine Chronik der Ereignisse in Bildern

Aufseiten der palästinensischen Propaganda wird ein anderer Schwerpunkt gelegt. Die Hamas und ihre Unterstützer nutzen vor allem emotionalisierende Bilder: Zerstörte Häuser im Gazastreifen, verzweifelte Frauen und Kinder. Das Hamas-Narrativ sei, dass die Palästinenser im Elend einer unverschuldeten Situation seien. Was bei der Attacke am 7. Oktober passiert ist, als die Hamas-Terroristen in Israel einfielen, 1400 Menschen töteten und 240 Geiseln verschleppten, sei dagegen nicht so schlimm oder gar von Israel inszeniert, so Bösch.
Hamas setzt auf Guerilla-Taktik
Die Hamas verfolgt digital eine ähnliche Taktik, wie auf dem Schlachtfeld: Sie nutzt Zivilisten als Schutzschilde. Auf Tiktok finden sich vergleichsweise wenig Videos von Truppenbewegungen oder Kampfhandlungen der Terrororganisation. Ihr Account wurde bereits wenige Stunden nach dem Überfall auf Israel gesperrt. Stattdessen wird die Propaganda der Hamas über unzählige kleine Konten gestreut, die auf den ersten Blick wie die Accounts von Privatpersonen erscheinen. Viele dieser Konten werden offenbar zentral mit Material versorgt, immer wieder finden sich auf mehreren Accounts die gleichen Inhalte, die gepostet wurden.
Der Plan der Hamas, Israel zu vernichten, wird dabei kaum thematisiert. Stattdessen setzt die Organisation alles daran, die Grenze zwischen der palästinensischen Zivilbevölkerung und der militanten Gruppe zu verwischen. Israel, so die Erzählung, sei nicht im Krieg mit der Hamas, sondern mit allen Palästinensern.
Ob über offizielle Accounts wie aufseiten Israels oder als Guerilla-Taktik wie bei der Hamas: Die Propaganda beider Seiten verfängt. Während viele Nutzer die Angriffe Israels auf den Gazastreifen als "Genozid" an der palästinensischen Zivilbevölkerung bezeichnen und die Morde und Entführungen der Hamas kaum Erwähnung finden, wird von anderer Seite die Art und Weise der israelischen Angriffe wenig kritisch gesehen oder pauschal als Selbstverteidigung tituliert.
Bösch appelliert deshalb, Inhalte von beiden Seiten immer wieder zu hinterfragen . Es sei sehr schwierig geworden, unmittelbar zu beurteilen, ob das, was man im Internet sieht, wirklich der Wahrheit entspreche, so der Tiktok-Forscher.
"Die Medienlandschaft im 21. Jahrhundert sieht komplett anders aus als im 20. Jahrhundert. Sie ist geprägt durch eine Vielzahl von Stimmen. Das kann Vorteile haben, wenn man multiperspektivische Augenzeugenberichte bekommt. Das kann aber auch negativ sein, weil Akteure ungefiltert ihre Botschaften verbreiten können."