Der SPD-Fraktionschef war genervt. Das Reformprojekt aus dem Gesundheitsministerium stand in der Kritik. In einer Fraktionssitzung maulte Peter Struck ins Mikrofon: "Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten." Und er versah diese Worte mit Grüßen an einen Parlamentarier, der besonders viele kritische Interviews gab: Karl Lauterbach.
Ohne Erfolg. Am 2. Februar 2007 verweigerten der heutige Minister und weitere 19 SPD-Abgeordnete einer Gesundheitsreform der Großen Koalition ihre Zustimmung. Die notwendige Mehrheit kam zwar zustande, aber die gute Laune vieler SPD-Abgeordneter war dahin. Sie hielten den Dissidenten vor, sie machten sich einen schlanken Fuß auf Kosten der Kollegen, die sich in die Koalitionsdisziplin nehmen ließen. Auch in der Union hatten viele nicht zugestimmt.
Strack-Zimmermann stimmte einem Oppositionsantrag zu
In der vergangenen Woche, also 17 Jahre später, haben abweichende Voten einzelner Abgeordneter fröhliche Urständ gefeiert. Und mittendrin: Karl Lauterbach, nur diesmal auf der Seite der Regierung. Vier SPD-Abgeordnete stimmten gegen sein Cannabis- Gesetz. Einen Tag vorher hatte die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann einem Oppositionsantrag zum Ukrainekrieg zugestimmt, in dem die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern gefordert wird.
Gewissensfreiheit gegen Fraktionsdisziplin – das ist der Konflikt, der dem Mandat jedes Abgeordneten innewohnt. Nach Artikel 38 Grundgesetz scheint die Sache klar: Abgeordnete sind "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Andererseits ist das demokratische System in Deutschland auf die Handlungsfähigkeit einer Regierung mit ihrer parlamentarischen Mehrheit ausgelegt. Deshalb gilt gerade in einer Regierungsfraktion, dass die Mehrheitsmeinung verbindlich sein sollte.
Das Ringen mit dem Gewissen
Nicht jede Gewissensentscheidung hat dasselbe Gewicht. Strack-Zimmermann und die vier SPD-Abgeordneten dürften vor ihren abweichenden Voten keine schlaflosen Nächte gehabt haben. Bei Christa Lörcher war das anders. Erinnern Sie sich? Die SPD-Abgeordnete weigerte sich nach dem 11. September 2001, einem Antiterroreinsatz der Bundeswehr zuzustimmen. Kanzler Gerhard Schröder konnte sie in einem Gespräch nicht umstimmen, Struck auch nicht, obwohl er es zwei Stunden lang versuchte. Lörcher blieb resolut bei ihrer Haltung, auch noch, als der Kanzler die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verband und von ihrer Stimme die Zukunft der rot-grünen Regierung abhängen konnte.
Ich habe Christa Lörcher später einmal besucht. Erst habe sie gedacht, "es kann doch nicht sein, dass ich alleine recht habe, und die anderen haben unrecht", erinnerte sie sich da. Doch es sei nicht um Richtig oder Falsch gegangen, "sondern darum, welche Entscheidung ich vertreten kann". Peter Struck hat mir später gesagt: "Man kann auf einen frei gewählten Abgeordneten keinen Druck ausüben." Gerade in der SPD bewirke man damit eher das Gegenteil: "Wenn ein Abgeordneter in seinem Wahlkreis sagt, der Struck hat mich unter Druck gesetzt, dann stellen die den erst recht wieder auf."
In der Union war man manchmal weniger zimperlich. Der CDU-Abgeordnete Klaus-Peter Willsch verlor 2014 seinen Sitz im Haushaltsausschuss, nachdem er sich Angela Merkels Euro-Politik widersetzt hatte. 2007 hingegen waren Unionisten, die nicht für die Gesundheitsreform gestimmt hatten, noch straffrei ausgegangen. Einen jener CDU-Abweichler sollte man sich merken, falls er selbst eines Tages Disziplin einfordert. Sein Name: Friedrich Merz.