Ukraine-Krieg Die Entdeckung wahrer Stärke

Hunderte von Menschen demonstrieren hier am 1. März auch vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, um ihre Unterstützung für das ukrainische Volk zu zeigen, darunter Dutzende von in Belgien lebenden Ukrainern. Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, hielt in Begleitung von Abgeordneten eine Rede vor den Anwesenden, in der sie die Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine deutlich macht und den Antrag der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft begrüßt
Hunderte von Menschen demonstrieren hier am 1. März auch vor dem Europäischen Parlament in Brüssel, um ihre Unterstützung für das ukrainische Volk zu zeigen, darunter Dutzende von in Belgien lebenden Ukrainern. Die Präsidentin des Europäischen Parlaments, Roberta Metsola, hielt in Begleitung von Abgeordneten eine Rede vor den Anwesenden, in der sie die Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine deutlich macht und den Antrag der Ukraine auf EU-Mitgliedschaft begrüßt
© picture alliance / Geisler-Fotopress | Dwi Anoraganingrum/Geisler-Fotop
Der russische Angriffs-Krieg gegen die Ukraine hat den Westen geeint, er steht geschlossen da wie nie. In dieser Verbundenheit steckt eine große Chance.

"Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und Wochen, in denen Jahrzehnte passieren." Dieses Zitat wird fälschlicherweise immer wieder Lenin zugeschrieben, tatsächlich ist die Herkunft unbekannt. Es passt trotzdem auf diese Tage im beginnenden Frühjahr 2022: Wir erleben eine Beschleunigung politischer Prozesse und Entscheidungen, wie wir sie wohl seit Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr kannten. Die zügigen Zwei-plus-Vier-Verhandlungen nach dem Fall der Mauer? Gemessen an der Aktualität: Strickjacken auf der Krim, Zeitlupe.

Wochenlang hatten die westlichen Spitzenpolitiker versichert, dass sie eine russische Invasion hart bestrafen würden. Da aber niemand so richtig an einen Krieg dieser Dimension geglaubt hat, nahm auch niemand diese Drohungen richtig ernst. Nach dem Motto: Was sollen sie denn sonst sagen? Die Sanktionen, die der Westen nach der Krim-Annexion 2014 erlassen hatte, waren nicht mal ein Nadelstich für den russischen Machthaber. Da drohte nichts, wovor er sich fürchten musste. Die EU? Ein zerstrittener Haufen, in dem man sich auch mal über die Energieeffizienz von Staubsaugern mit leerem Beutel streitet. Aber ernsthafte Konsequenzen für Russland? Zusammen mit den Amerikanern, die so viel mit sich selbst zu tun haben? Netter Versuch.

Corona oder Klimaschutz: Gemeinsame Strategien fehlten bisher

Und dann das: Knapp 600 Seiten umfasst der knallharte Strafkatalog der Europäer, der Putin nach Beginn des Krieges präsentiert wurde, garniert mit Einreisebeschränkungen und gesperrten Konten. Kurz darauf fror Boris Johnson die in England lagernden Vermögen russischer Oligarchen ein. Und dann wurden auch noch sieben Banken vom internationalen Swift-System ausgesperrt.

Das sind Schläge, die sitzen. Scheinbar über Nacht hatte der Westen zu einer völlig neuen Einheit gefunden, stand geschlossen da, Schulter an Schulter. In zwei Jahren Corona war es Europa nicht im Ansatz gelungen, eine gemeinsame Strategie gegen das Virus zu entwickeln. Beim Klimaschutz und bei der dringend notwendigen CO2-Neutralität geht jedes Land seinen eigenen Weg, inklusive des weiteren Ausbaus der Atomenergie als Brückentechnologie. Selbst im Verhältnis zu Russland, geschweige denn in der Außen- und Sicherheitspolitik: von einem einheitlichen Handeln keine Spur. Und nun verurteilte sogar Viktor Orbán die Invasion seines guten Bekannten in Moskau. (Bei ihm stehen allerdings Anfang April Wahlen an, und ein Instinkt-Politiker wie er wittert sofort, dass zu viel Nähe mit Moskau derzeit schadet.)

Das einzig Positive der Ukraine-Invasion

Offensichtlich braucht es mächtigen Druck von außen, um die Regierenden all ihre Eigeninteressen einem großen Ganzen unterordnen zu lassen. Frieden und Freiheit: Die konkrete Bedrohung an der Ostgrenze hat dazu geführt, sich auf diesen gemeinsamen Nenner zu besinnen. Wenn es um unsere demokratische Zukunft geht, stehen wir zusammen, und die Stärke, die daraus erwächst, ist viel größer, als alle, inklusive Putin, gedacht haben.

Dieses Gefühl der westlichen Einheit tut gut und ist das einzig Positive, was die Invasion in der Ukraine hervorgebracht hat. Bedauerlich, dass es erst einen Krieg brauchte, um diese Geschlossenheit zu erreichen. Wie wertvoll wäre es, wenn Europa auch andere Herausforderungen – eben die Klimakatastrophe – als genauso bedrohlich empfin den würde. Denn das ist sie: Der neueste Weltklimabericht beschreibt eine akute Gefährdung der Bedingungen menschlichen Lebens auf der Erde. Hier wird nicht geschossen, aber auch hier muss gehandelt werden. Geschlossen und schnell.

Erschienen in stern 11/2022