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"Schaden in der Oberleitung" Das Desaster der Deutschen Bahn: "Die Lage ist noch viel bedrückender, viel schlimmer"

Ein ICE-Zug der Deutschen Bahn verlässt den Bahnhof Hamburg-Altona. Der Autor und langjährige stern-Journalist Arno Luik schreibt in seinem Buch "Schaden in der Oberleitung", dass das Desaster der Deutschen Bahn kein Versehen ist  Es gibt Täter. Sie sitzen in der Bundesregierung, im Bundestag und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn.
Ein ICE-Zug der Deutschen Bahn verlässt den Bahnhof Hamburg-Altona. Der Autor und langjährige stern-Journalist Arno Luik schreibt in seinem Buch "Schaden in der Oberleitung", dass das Desaster der Deutschen Bahn kein Versehen ist  Es gibt Täter. Sie sitzen in der Bundesregierung, im Bundestag und seit Jahren im Tower der Deutschen Bahn.
© Bodo Marks / Picture Alliance
Die Klimaanlagen sind Virenschleudern, die Werkstätten chronisch überlastet – was der Bestsellerautor Arno Luik nach Lesungen von Bahnmitarbeitern erfuhr. Auch dass die Bahn ihre Lokführer durch Deutschland fliegen lässt.

Kritik an der Deutschen Bahn bleibt oft stehen bei lustigen Englischfehlern, falschen Wagenreihungen oder ausfallenden Klimaanlagen. Doch die Malaise liegt im System: Seit der Bahnreform im Jahr 1994, nach der die Bahn an die Börse sollte, handeln die Bahn-Verantwortlichen, als wollten sie die Menschen zum Autofahrer erziehen.

Arno Luik, einer der profiliertesten Bahn-Kritiker, öffnet uns mit seinem Buch "Schaden in der Oberleitung", das jetzt als Taschenbuchausgabe im Westend Verlag erschienen ist, die Augen. Konkret geht es um Lobbyismus, Stuttgart 21, um Hochgeschwindigkeitszüge, um falsche Weichenstellungen, kurz: um einen Staatskonzern, der außer Kontrolle geraten ist. 10 Milliarden jährlich pumpen wir Steuerzahler in die Deutsche Bahn – dafür ist sie dann in 140 Ländern der Welt im Big Business tätig. Aber hierzulande ist die Bahn eine echte Zumutung: Die Züge fahren immer unpünktlicher, oft fahren sie gar nicht und manchmal sind sie ein Risiko für unser Leben.

Der stern stellt die Taschenbuchausgabe mit einem Auszug aus dem Vorwort vor.

Nach Lesungen, die es seit März 2020 nicht mehr gibt, kamen oft Bahnmitarbeiter auf mich zu, nicht selten sagten sie: "Es ist ja ganz schön, Herr Luik, was Sie da als Bahn-Desaster beschrieben haben. Sie haben ja recht mit Ihrer Kritik, aber die Lage bei der Bahn ist noch viel bedrückender, viel schlimmer".

So erfuhr ich beispielsweise im Februar 2020 nach einer Lesung von einem peinlichen Geheimnis der Deutschen Bahn AG: dass ohne die Lufthansa die miese DB-Verspätungsstatistik und die Zahl der komplett ausgefallenen Züge noch übler wären. Denn fast jeden Tag, kein Witz, flog die Bahn damals Lokomotivführer hin und her hoch über Deutschland, von Hamburg nach München, von München nach Berlin, von West nach Ost, vom Süden nach Norden: Sie wurden durch die Luft geschickt, um die Bahn am Boden am Laufen zu halten, um für fehlende Lokführer einzuspringen, gestrandete Züge irgendwie ans Ziel zu bringen. Ökologie ade.

Nach einer anderen Lesung kamen Mitarbeiter eines ICE-Ausbesserungswerks auf mich zu und erzählten, dass ihre Arbeit sie psychisch enorm belaste, ja, regelrecht fertigmachen würde. Warum? Was diese Mitarbeiter bedrückte, war, dass sie immer wieder, eigentlich ständig, "nicht komplett reparierte ICE-Züge" auf die Strecken lassen müssten. Wie bitte? Ja, sagten sie, ICE's ohne die volle Bremskraft. Hä? Ja, sie seien, sagten diese Bahn-Techniker, in den Werkstätten so überlastet, dass einfach keine Zeit bliebe für nötige und vor allem korrekte Reparaturen – etwa bei den elektronischen Bremsen. So hätten ICE's nach Verlassen ihres Reparaturwerks "oft nicht die volle Bremskraft". Aber Bremsen, sagte ich, das ist doch sicherheitsrelevant. Nö, nicht wirklich, nein, meinten sie, "oft nicht die volle Bremskraft" würde halt bedeuten, dass die Züge statt mit 220 oder 280 Kilometern bloß mit 160 Kilometer dahinschleichen dürften. Fahrplan ade.

Ach, sagten sie dann auch noch, sie würden übrigens nie mit ICE-Zügen fahren. Warum denn nicht? "Wenn Sie wüssten", sagten sie, "wie dreckig die Klimaanlagen sind, das sind die reinsten Dreck- und Virenschleudern." Wie bitte? Ja, aus Zeitgründen kämen sie einfach schon seit Jahren nicht mehr dazu, sie ordentlich zu säubern. Das war vor Corona. Bleibt nur zu hoffen, dass sich zumindest dies nun gebessert hat.

Ständig kaputte Toiletten in ICE-3-Zügen

Ich erfuhr nach einer Lesung: Den Bahn-Mitarbeitern in den Reparaturwerkstätten stinkt es gewaltig – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Mitarbeiter würden "nachts in den Ausbesserungswerken vor Wut und Verbitterung oft aufschreien, weil wir die Schnauze vollhaben von den ständig kaputten Toiletten in den ICE-3-Zügen". Ständig kaputt seien die Toiletten in dieser Zuggattung, weil die Bahn spare, wo es nur gehe: beispielsweise an ordentlichen, aber etwas teureren Schläuchen in den Toiletten.

Lokführer Karl im Februar 2021 zu Arno Luik

"Seit 30 Jahren ist die Schnellfahrstrecke Hannover – Würzburg in Betrieb. Noch nie ist sie wegen Schnee oder Eis gesperrt worden – und es gab in der Zeit oft viel Schnee und Eis, viel mehr als heute. Doch neulich wurde sie und ganz Norddeutschland von der Bahn abgekoppelt. Wir haben rund um die Uhr Enteisungsfahrten gemacht und an die Verantwortlichen gemeldet: Alles fahrbar. Kein Problem. Trotzdem stand tagelang alles still. Der Grund: Die Bahn war zu faul oder es war ihr zu teuer, die Rettungswege zu den Tunneln und Betriebsbahnhöfen freizuräumen. Ich nenne das: Sabotage von oben." 

Oder: Bahnmitarbeiter berichteten noch immer entsetzt von Bahnchef Mehdorn und dessen verheerendem Agieren, das noch heute nachwirkt: Um seinen Traum vom Börsengang zu realisieren, ließ er sparen, wo es nur geht, richtig ausgedrückt: Wo es eben nicht geht. Etwa bei der Reparatur von Schwellen. Wurden beschädigte Schwellen bei der Deutschen Bundesbahn früher prinzipiell komplett ausgewechselt, wurden unter Mehdorn nur die beschädigten Teile ersetzt. Die gleiche Flickschusterei, im Klartext: Stümperei, machte man unter Mehdorn auch bei lädierten Weichen und Kreuzungen. Aber: Diese Billigreparaturen mach(t)en das System anfälliger. Es reduziert zwangsläufig die Geschwindigkeit der Züge. "Da ging es zu wie in Uganda", erzählte mir so entsetzt wie frustriert ein Bahnmitarbeiter. Zuverlässigkeit ade.

Rückenschmerzen in ICE-4-Zügen

Dieser Drang zum Billigen nervt Bahnkunden fast täglich – manche können deswegen nicht einmal schlafen: Weil die Sitze in den ICE-3- und ICE-4-Zügen so etwas "wie Folterinstrumente" sind, wie einer im Netz klagt. Sie vergraulen sogar Kunden: "Die neuen Sitze haben mir solche Rückenbeschwerden verursacht, dass ich aufs Fliegen umgestiegen bin", heißt es im Netz. Im Dezember 2020 knickt die Bahn kleinlaut ein. Kurz zuvor hatte der Konzern nach einer Anfrage der Linken im Bundestag noch frech erklärt, es gäbe kaum Kundenklagen. Von wegen.

Nachdem erst die Social-Media-Redaktion der Bahn vor dem Hohn der Gäste und vor dem eigenen verzweifelten Schöngerede kapituliert hat und nachdem auch noch ein Ergonomie-Institut die Fehlkonstruktion der Sitze moniert hat, ließ die Bahn wissen: "Wir haben uns die Kritik und das viele Feedback zu den Sitzen im ICE 4 und modernisierten ICE 3 zu Herzen genommen".

Jetzt sollen nach und nach 60.000 Quäl-Sitze ausgewechselt und wieder menschenfreundlich gestaltet werden. Sie sollen weichere Rückenpolster und bessere Armlehnen bekommen, etwas mehr Bewegungsfreiheit für Kopf und Schultern soll es geben. Es soll also wieder fast so bequem werden wie beim Uralt-ICE 1, den die Deutsche Bundesbahn vor mehr als drei Jahrzehnten konzipiert hat. Die Gesamtkosten der Sanierungsarbeiten, die durch die DB-AG-typische Unfähigkeit oder Gleichgültigkeit provoziert worden sind: rund 50 Millionen Euro. Aber wegen Corona, sagt die Bahn, werde das länger dauern als geplant.

Den vollständigen Text finden Sie in: Arno Luik: "Schaden in der Oberleitung. Das geplante Desaster der Deutschen Bahn", 304 Seiten, erschienen im Westend Verlag, Preis: 12 Euro.

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